Der Videobeweis in der Bundesliga ist 11 Spieltage alt. Eine Erkenntnis aus dieser Zeit: Der Teil der Kritiker, der befürchtet hatte, durch den Videobeweis werde der Fussball der jeweils eine Woche andauernden emotionalen Diskussionen über die Berechtigung von Schiedsrichterentscheidungen des letzten Wochenendes entkleidet und würde so einen Großteil seiner Faszination einbüßen, lag komplett falsch. Die Diskussionen haben sich seit Saisonbeginn eher verschärft. Natürlich hat sich dabei der Fokus ein bisschen verschoben – diskutiert wird nicht mehr nur die Entscheidung an sich, sondern auch die Frage, ob bzw. was der Videobeweis zu einer (Fehl-)Entscheidung beigetragen hat bzw. zu deren Vermeidung hätte beitragen können.

Für mich markant gewordene Beispiele für diese Diskussionen und damit auch Ausgangspunkt dieses Artikels sind der Elfmeter für Borussia im Spiel gegen Hannover, der nicht gegebene Elfmeter gegen Borussia und das aberkannte 0:2 im Spiel gegen Mainz, aber auch der Platzverweis für den Freiburger Söyüncü, die nicht hinterfragte Gelbrote Karte gegen den Stuttgarter Burnic und schließlich – obwohl in diesem Fall der Videobeweis gar nicht anwendbar war – das Foul von Vidal im Pokalspiel gegen die Getränkehändlerwerbetruppe.  

Zweite Erkenntnis: Wie in fast allen Streitfragen der letzten Jahre ist die Kommunikation der Verbände – in diesem Fall die von DFB und DFL – eine Katastrophe, die in diesem konkreten Fall so weit geht, dass das Projekt als Ganzes gefährdet ist, bevor es richtig angefangen hat.

Da die Frage, ob der Videobeweis Bestand haben sollte und welche Form seiner Anwendung das Spiel bereichern würde, auch in der Redaktion von SEITENWAHL kontrovers diskutiert werden, nachfolgend meine persönlichen Gedanken dazu, wie es sinnvoll gehandhabt werden könnte:

1. Was können wir von Videobeweis erwarten?

Keinesfalls die Eliminierung jeglicher Fehlentscheidung. Auch die Idee, der Videobeweis werde den Fußball „gerechter“ machen, überfrachtet meines Erachtens ein technisches Hilfsmittel. Realistischer ist die Annahme, dass in Zukunft gravierende Fehlentscheidungen in Wettbewerben mit Videobeweis seltener werden könnten, die unmittelbaren Einfluss auf den Ausgang eines Spieles haben.

Im Grunde genommen geht es auch um die Wiederherstellung einer gewissen Waffengleichheit. Bevor alle Spiele der oberen Ligen live und in voller Länge übertragen wurden, konnten weder (Fernseh-)Zuschauer noch Journalisten, noch (selbsternannte) Experten, noch Spieler und Trainer zuverlässig eine Fehlentscheidung des Schiedsrichters feststellen, es sei denn, diese war zufällig als Teil eines Zusammenschnittes dreier Spiele in der Sportschau aus der einzigen verfügbaren Kameraperspektive eindeutig erkennbar. Heute dagegen hat nahezu jeder der 80 Millionen deutschen Bundestrainer und Oberschiedsrichter innerhalb von Sekunden 10 Zeitlupen aus 10 verschiedenen Blickwinkeln zur Verfügung und kann sich damit seine fundierte Meinung bilden. Der einzige, der diese Möglichkeit nicht hat, ist der Schiedsrichter zusammen mit seinem Team, der in Sekundenbruchteilen über „Leben und Tod“ entscheiden soll, im Fall einer Fehlentscheidung jedoch medial hingerichtet wird.  

Im besten Fall geht die Heranziehung technischer Hilfsmittel damit einher, dass Schauspielerei und permanentes Reklamieren von Spielern und Trainern gegen Schiedsrichterentscheidungen in Zukunft weniger Raum einnehmen. Dass das funktionieren kann, hat die völlig geräuschlose (weil sofort funktionierende) Einführung der Torlinientechnik vor einigen Jahren bewiesen.

2. Wann sollte der Videobeweis Anwendung finden?

Unter diesen Prämissen sind die von DFL vorgegebenen vier Anwendungsfälle eigentlich klug gewählt: Der Katalog lautet (zum Nachlesen hier – Link): „Torerzielung (Foul, Handspiel, Abseits und andere Regelwidrigkeiten), Strafstoß / Elfmeter (nicht oder falsch geahndete Vergehen), Rote Karte (nicht oder falsch geahndete Vergehen), Verwechslung eines Spielers (bei Roter, Gelb-Roter oder Gelber Karte)“.

Eine Anwendung des Videobeweises nur in den genannten Fällen stellt zunächst einmal sicher, dass der Videobeweis die Ausnahme bleibt und nicht die Gefahr besteht, den Spielfluss durch ein ständiges Sezieren jeder einzelnen Entscheidung total zu zerstören. Zudem handelt es sich um Anwendungsfälle, in denen das Spiel in der Regel unterbrochen ist.

Zwei Lücken finden sich dennoch:

Die Anwendung des Videobeweises bei einer glatten Roten Karte und seine Nichtanwendung bei einer Gelbroten Karte kann keinen Bestand haben. Bemerkenswerter Weise ist – siehe das Stichwort „Kommunikation“ – in diesem Punkt der Wortlaut der Veröffentlichungen von DFB und DFL nicht einheitlich: Während beim DFB (Link) von „Roter Karte“ die Rede ist, spricht die Veröffentlichung der DFL (Link) von „Platzverweis“, was möglicherweise auch eine Gelbrote Karte mit einschließt. Beide Situationen haben identische Auswirkungen auf das laufende Spiel, nämlich dass die von der persönlichen Strafe gegen einen Spieler betroffene Mannschaft das Spiel mit einem Mann weniger fortsetzen muss. Der gegen die Anwendung des Videobeweises auf Gelbrote Karten vorgebrachte Einwand, man müsse dann auch sämtliche Gelbe Karten mit überprüfen, überzeugt mich persönlich nicht. Eine erste Gelbe Karte – das heißt nicht umsonst „Verwarnung“ – verlangt von dem betroffenen Spieler nichts anderes als zukünftig regelkonformes Verhalten. Der wichtige Punkt: Nach einer Gelben Karte – und sei sie auch noch so unberechtigt – können sich der betroffene Spieler (keine Blutgrätschen mehr, keine taktischen Fouls mehr, keine Trikotzupfer, kein Meckern) und dessen Team (z.B. durch Auswechslung oder taktische Umstellung) auf diese Situation einstellen, ohne dass dies vergleichbare Auswirkungen auf das Spiel hat wie die Gelbrote Karte. Insofern bin ich der Auffassung, dass eine Anwendung des Videobeweises auf Gelbrote Karten möglich ist, ohne gleich alle Verwarnungen in den Anwendungsbereich einbeziehen zu müssen.

Die zweite nicht klar geklärte Frage ist, wie weit in einem zu einem Tor führenden Spielzug der Videoassistent eigentlich zurückgehen darf, um eine Regelwidrigkeit zu ermitteln. Soll der Videobeweis nur bei unmittelbar vor dem Einschuss liegenden Vergehen eingreifen oder auch denn, wenn z.B. ein Foul am anderen Strafraum zum Wechsel des Ballbesitzes und dann ohne weitere Spielunterbrechung zum Tor führt – sei es durch einen Konter über 2 Stationen oder aber mittels 20maligem Hin- und Herschieben des Balles in Tiki-Taka-Manier? Präzedenzfälle fehlen bisher, auch die Veröffentlichungen von DFB und DFL schweigen zu dieser Frage. Meines Erachtens spricht viel dafür, den erstgenannten Weg zu gehen und den Videobeweis nur dort einzusetzen, wo das Vergehen unmittelbar vor der Torerzielung liegt (ohne dass das Vergehen notwendigerweise vom Torschützen begangen werden muss). Für alles das, was weiter entfernt ist und sich noch irgendwie hätte verteidigen lassen, lässt sich vielleicht die aus der Abseitsregel bekannte Lehre von der „neuen Spielsituation“ nutzbar machen.

3. Was muss sich dringend ändern?

Auch wenn ich in den bisher diskutierten Fragen mit den Regelungen des DFB weitgehend konform gehe, muss sich meines Erachtens ein wesentlicher Punkt ändern:

In der jetzigen Form – nämlich mit einem von außen durch den Videoassistenten ausgelösten Eingriff – fehlt der Anwendung des Videobeweises zum einen jede Transparenz. Wenn der DFB auf seiner Homepage mitteilt, dass „parallel … bis zu sechs Spiele von je einem Video-Assistenten verfolgt werden“ können, teilt er dem Publikum nichts anderes mit als dass die Anwendung oder Nichtanwendung des Videobeweises auf eine Szene letztlich davon abhängt, auf welchen Bildschirm der Videoassistent zufällig gerade schaut. Zeitgleiche oder auch nur kurz aufeinanderfolgende Szenen aus verschiedenen Stadien werden sich so nicht zuverlässig abdecken lassen. Schließlich wird der Videoassistent – sei er (Ex-)Bundesligaschiri oder nicht – nicht ohne technische Zuarbeit von Dritten auskommen, die strittige Bilder schnell aus der richtigen Perspektive einspielen. Allein der theoretische Gedanke, dass in einem Kölner Keller ein Schalke-Fan sitzen und dafür verantwortlich sein könnte, welche Szenen der Videoassistent in einem Duell Dortmund gegen Schalke eingespielt bekommt, beseitigt jegliches Vertrauen in eine transparente und zuverlässige Anwendung.

Zum anderen untergräbt der willkürliche oder als willkürlich empfundene Eingriff von außen trotz aller Beteuerungen, dass es sich bei dem Videoassistenten nicht um einen Oberschiedsrichter handeln soll, die Autorität des Schiedsrichters. Letzteres zeigt sich u.a. daran, dass der schnellste Lerneffekt, den die Akteure auf dem Rasen aus der Einführung des Videobeweises generiert haben, ist, dem Schiedsrichter gegenüber einen imaginären Bildschirm in die Luft zu malen.  Die Frage, ob eine klare Fehlentscheidung und damit eine den Eingriff von außen rechtfertigende Situation vorliegt, ist in Fragen unterschiedlicher Regelauslegung eine durchaus subjektive. Greift jedoch der Videoassistent nach den derzeitigen Regeln von außen ein, kann sich der Schiedsrichter dem kaum entziehen, auch wenn er selbst die Entscheidung möglicherweise anders treffen würde. So wird der Videoassistent unweigerlich zum Oberschiedsrichter, was angeblich niemand will.

Aus diesem Grund bin ich der Meinung, dass die Entscheidung über die Inanspruchnahme von Videobildern zur Klärung eines Zweifelsfalls nicht in Köln oder sonst irgendwo abseits des Stadions getroffen werden darf, sondern ausschließlich den Akteuren auf dem Rasen obliegen muss.

Mit anderen Worten: Der Schiedsrichter selbst sollte in Zusammenarbeit mit seinen Assistenten entscheiden, ob er sich einer Entscheidung in den vom DFB vorgegebenen Anwendungsfällen Tor, Elfmeter, Rote (Gelbrote) Karte oder Verwechslung einer Person bei persönlichen Strafen hinreichend sicher ist oder ob er sich die Videobilder anschauen will. Der zusätzliche externe Videoassistent ist in diesem Szenario überflüssig. Alles was benötigt wird ist technische Unterstützung, die dem Schiedsrichter am Spielfeldrand schnellstmöglich die Bilder aus allen verfügbaren Perspektiven einspielt, um dem Schiedsrichter selbst eine Entscheidung zu ermöglichen.

Um absolutistischen Anwandlungen der Schiedsrichter vorzubeugen, braucht es in diesem Szenario natürlich ein Korrektiv in Form einer Challenge, wie man sie aus anderen Sportarten kennt, wie sie aber derzeit aufgrund der Vorgaben der Fifa (Nicht an allem ist der DFB schuld!) für den Pilotversuch in der Bundesliga nicht möglich ist: Trainer und/oder Mannschaftskapitän – jedoch niemand anderes – sollten zweimal pro Spiel die Möglichkeit haben, den Videobeweis einzufordern (wohlgemerkt: auch wieder nur in den vom DFB vorgegebenen Anwendungsfällen Tor, Elfmeter, Rote (Gelbrote) Karte oder Verwechslung einer Person bei persönlichen Strafen). Tun sie das zu Recht, wird ihnen die Challenge wieder gutgeschrieben, also nicht als verbraucht gezählt.   

Auf diese Weise würde aus dem jetzt mittels externem Eingriff durchgeführten „Videobeweis“ eine „Videounterstützung“.

Ein schönes Anwendungsbeispiel für eine solche Situation ist das Foul von Vidal im Pokalspiel. In meinem Regelszenario hätte der Schiedsrichter die Szene abpfeifen, jedoch ohne jeden Gesichtsverlust sofort die Videounterstützung anfordern können, weil einerseits sicher war, dass es sich um ein Foul handelte, andererseits jedoch niemand ohne Zeitlupe klar einordnen konnte, ob dieses Foul außerhalb oder innerhalb des Strafraumes stattgefunden hat. Hätte der Schiedsrichter in dieser Situation dagegen auf die Videounterstützung verzichtet, hätte je nach Entscheidung eines der beiden Teams die Heranziehung der Videounterstützung mittels Challenge einfordern können.

4. Wie wirkt sich ein vernünftig angewendeter Videobeweis aus?

Die vorgeschlagene Vorgehensweise wird nicht jeden Zweifelsfall beseitigen. Auch hierfür ist das angesprochene Foul von Vidal ein gutes Beispiel – gingen doch auch nach dem Videostudium die Expertenmeinungen darüber auseinander, ob das Foul nun eher im oder außerhalb des Strafraumes war.

Sie ist aber besser als die derzeitige Praxis geeignet, das Vertrauen darauf wiederherzustellen, dass Schiedsrichterentscheidung nach bestem Wissen und unter Heranziehung aller nach den Regeln zulässigen Hilfsmittel getroffen werden und dass die Videounterstützung zuverlässig immer dann eingesetzt wird, wenn dies erforderlich ist.

Gelingt dies, wird die Videounterstützung mittelfristig ein unspektakulärer Bestandteil des Profifußballs sein. Was sich in der Praxis der Spielleitung dadurch ändern könnte, sind drei Punkte:

Erstens könnte sich in Bezug auf Abseitsentscheidungen erstmals die Regel „Im Zweifel für den Angreifer“ wirklich durchsetzen. Die Videounterstützung böte dem Schiedsrichterteam die Möglichkeit, im Zweifel das Spiel laufen zu lassen um dann nachträglich eine Entscheidung zu treffen, wenn ein Tor aus der Situation entsteht.

Zweitens würden Schwalben im Strafraum gefährlicher für den Schauspieler. Der Schiedsrichter könnte anders als heute in Zweifelsfällen abpfeifen und die Situation mittels Videounterstützung klären. Bestätigt sich der Elfmeter, ist kein Schaden entstanden. Stellt sich jedoch ein bewusster Täuschungsversuch heraus, wäre dieser mit Freistoß für die gegnerische Mannschaft zu ahnden. Zusätzlich müsste der Übeltäter dieselbe persönliche Strafe erhalten, die der vermeintlich foulende Spieler erhalten hätte, wäre die Täuschung gelungen. Das Risiko, für Schauspieleinlagen mindestens mit einer Verwarnung bestraft zu werden, stiege damit exorbitant. Kommt der Schiedsrichter hingegen nach Videosichtung zu dem Ergebnis, dass es sich zwar um Körperkontakt, jedoch weder Schwalbe noch Foul handelt, wäre ein Abstoß für die verteidigende Mannschaft wohl die sinnvollste Lösung.   

Drittens könnte die Möglichkeit der Challenge die immer nervtötender werdenden Reklamationen und Rudelbildungen verkürzen bzw. seltener machen.  Der Schiedsrichter hätte in diesen Situationen die Möglichkeit, reklamierenden Spielern oder Trainern anheimzustellen, entweder die Challenge zu nutzen oder aber – wenn sie sich auch nicht sicher sind und deshalb keine Challenge sinnlos verschwenden wollen – den Mund zu halten.  

Das wäre für den Fußball kein schlechtes Ergebnis.