augsburg

Um ein Auswärtsspiel Borussias in Augsburg (hobby-)journalistisch aufzubereiten, bedarf es im Prinzip nur eines sehr simplen Wörter-Bingos. Man tippe einfach zufällig einen der Begriffe "Schneid abkaufen", "wie immer“, "physisch sehr präsente Fuggerstädter", "zaghafte Gladbacher" oder auch "Kackspiel" in sein Textverarbeitungssystem, garniere das noch mit den üblichen Füllwörtern und, voilá, fertig ist ein Spielbericht. Da dies aber unabhängig davon gilt ob Borussia mit Lucien Favre gerade auf dem Weg in die Champions-League ist (2:1 Niederlage 2014), mit Andre Schubert gen Abstiegskampf trudelt (1:0 Niederlage 2016) oder mit Dieter Hecking als zweimaliger Neunter komplett mittelmäβig daher kommt (2:2 und 1:1) fällt es auch schwer aus diesen Spielen irgendwelche tieferen Rückschlüsse auf den wahren Leistungsstand Gladbachs zu ziehen. Wir begnügen uns daher in diesem Nachbericht auch mit ein paar kurzen kleineren Einsichten:

  1. Für die Jungen wachsen die Bäume nicht in den Himmel! Jordan Beyer und vor allem Florian Neuhaus hatten gegen Leverkusen einen Traumstart in ihre Bundesligakarriere, aber am Samstag sah das anders aus. Neuhaus blieb weitestgehend blass, während Beyer leicht überfordert wirkte und zur Halbzeit Opfer der taktischen Umstellung wurde. Genau die Art von Spiel, die man einem jungen Spieler schon mal zugestehen muss, insofern egal, die machen sich schon.
  2. Für die Alten auch nicht! Auch Tony Jantschke und Raffael waren Gewinner des Auftaktspiels in der Vorwoche, konnten aber ihre Leistung in keiner Weise bestätigen. Raffael wurde für seinen schwachen Auftritt in der Halbzeit mit Auswechslung abgestraft, während Jantschke durchspielen durfte bzw musste, aber vermutlich die nächsten Tage noch so manchmal an die Flanke vor dem 1:0 denken, die er trotz all seiner Erfahrung schülerhaft unterlief. Für diese beiden Routiniers könnte es schwer werden ihr Stammplätze zu behalten, wenn sich solche Ausfälle wiederholen sollten.
  3. Hecking kann variieren! Einer von vielen Vorwürfen, die dem Gladbacher Trainer gern gemacht wird, ist, dass er taktisch unflexibel ist. Das war am Samstag anders: Nicht nur reagierte er früh mit 2 Wechseln zur Halbzeit auf die schwache Leistung seiner Mannschaft, sondern er stellte auch auf eine Dreierkette um, hatte dann aber auch die Einsicht dies wieder rückgängig zu machen, als klar wurde, dass es den Augsburgern eher in die Karten spielte.
  4. Der Kader IST breit! Wenn man in der Halbzeit bei Rückstand einfach mal einen Schweizer WM-Fahrer und einen 23-Millionen-Einkauf einwechseln kann, dann sind das Möglichkeiten, um die viele andere Vereine in der Liga die Borussia beneiden.
  5. Plea trifft! Der Franzose mag noch etwas Zeit brauchen um sich an die Bundesliga und seine Mannschaftskameraden zu gewöhnen, aber er scheint zu wissen, wo das Tor steht. Im Pokal brauchte er 8 Minuten um zu treffen, in der Liga dauerte es insgesamt 34 Minuten über 2 Spiele. Somit lässt er Presse und Fans überhaupt keine Zeit, eine "wann trifft er endlich?"- Diskussion zu starten, die so oft eine Last für einen neuen Stürmer sein kann.

Nun ist erstmal Länderspielpause, Zeit für uns alle den Saisonbeginn zu verdauen, der sich nach glattem Pokalsieg, schönem Sieg gegen Leverkusen und dem üblichen Gemurkse in Augsburg mit immerhin einem Punkt mit "geht in Ordnung" zusammen fassen lässt. Mit der Kürze dieser Analyse verletze ich jedoch ein wenig die (bislang) unbestrittene Fuβball-Regel, dass der Saisonstart besonders wichtig ist, über die ich mir jetzt im Rest dieses Artikels ein paar Gedanken machen möchte.

Die Gründe, dem Anfanger der Spielzeit besondere Bedeutung zu zumessen, liegen auf der Hand: Frühe Erfolge sollten Selbstvertrauen geben, die Position des Trainers stärken, eine Welle der Euphorie erzeugen auf der die Mannschaft dann durch die Saison getragen wird. Umgekehrt können ein paar Niederlagen direkt zu Beginn das Team verunsichern, zur Unruhe im Umfeld führen und somit all die gute Arbeit der Saisonvorbereitung gleich schon wieder zerstören. Im Rasenfunk (dem wohl populärsten und besten Bundesligapodcast) wurde daher zum Beispiel bei der Vorschau auf die neue Saison von Moderator Max Jacob Ost bei jedem Verein auch detailliert auf das Startprogramm geschaut, um zu entdecken welche Mannschaften vielleicht einen Vor oder Nachteil durch besonders schwache/starke Gegner in den ersten Spielen hätten.

Kramt man in den eigenen Erinnerungen herum, findet man auch gleich Beispiele, welch eine Wichtigkeit des Starts in die Saison belegen. Unvergessen der Gladbacher Auftaktsieg in München 2011, der dem Fastabsteiger der Vorsaison Flügel verlieh und bis auf den vierten Platz führte. Oder die Saison 2008/9, als man mit vielen Hoffnungen in die Bundesliga wieder aufgestiegen war, aber nach Niederlagen gegen Stuttgart und in Hoffenheim gleich wieder auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt wurde und dann bis zum letzten Spieltag um den Klassenerhalt bangen musste. Allerdings gibt es auch Gegenbeispiele: 2006/7 startete man mit 9 Punkten aus 5 Spielen und war sogar für eine Freitagnacht mal Tabellenführer, nur um danach sang und klanglos abzusteigen; 2015 ging es mit 5 Niederlagen katastrophal los, aber am Ende schaffte man es noch in die Champions-League.

Nun lässt sich mit Einzelbeispielen immer alles beweisen oder widerlegen, so dass sich die Frage stellt, wie das denn so im langjährigen Mittel aussieht: Ist es wirklich so, dass der Start einen besonderen Einfluss auf den Rest der Saison hat? Oder ist das eher eine subjektive aber falsche Wahrnehmung?

Um dieser Frage auf den Grund zu gehen, habe ich (wie schon bei anderen Artikeln dieser Art) den Datensatz „Bundesliga“ aus der R-library vcd (https://vincentarelbundock.github.io/Rdatasets/doc/vcd/Bundesliga.html) benutzt und daraus die 43 Ligajahre zwischen 1963-2008 herausgesucht, welche mit 18 Mannschaften bestritten wurden. Als guten Start wertete ich, wenn ein Team in den ersten 4 Spielen mindestens 10 Punkte holte (wobei alle Jahre mit der 3-Punkte Regel analysiert wurden), als schlechten Start wenn ein Verein höchstens 1 Punkt aus den ersten vier Spielen holte. Nach dieser Definition finden sich 64 Fälle, in denen ein Club einen guten Start hatte und 58, in denen es einen schlechten Start gab.

Schaut man sich die Ergebnisse dieser Vereine zu Saisonende an, so ergibt sich, dass die guten Starter im Durchschnitt 61.7 Punkte holten und im Mittel Tabellenplatz 3.6 belegten, wohingegen es nur 37.7 Punkte und Platz 13 für die schlechten Starter waren. Auf den ersten Blick also ein klarer Beweis, wie wichtig es ist, gut in die Saison zu kommen. Ich hoffe stark, dass es nun ein kollektives "Moment mal, …" aus der Leserschaft gibt, denn die vorangegangenen Zeilen sind ein Paradebeispiel dafür wie man mit Zahlen und Statistiken vortrefflich lügen kann. Zum einen kann es zwar vorkommen, dass ein Topteam einen Horrorstart hat und ein Abstiegskandidat zu Beginn ein paar mal gewinnt (der HSV startete letztes Jahr mit zwei Siegen), aber typischerweise sind die guten Starter die besseren und die schlechten Starter die schwächeren Teams der Liga, also keine Wunder, dass sich die Endresultate so unterscheiden. Zum anderen beinhaltet das Abschlussergebnis natürlich die ersten vier Spieltage und ein schlechter Starter muss schon 9-12 Punkte in den folgenden 30 Partien gut machen, um einen Top-Starter noch einzuholen.

Vielleicht macht es also mehr Sinn sich die Restsaison der Teams anzuschauen: der Punkte-Durchschnitt der guten Starter sinkt von 2.6 an Spieltag 1-4 auf 1.7 an Spieltag 5-34, während er bei den schlechten Startern von 0.2 auf 1.2 steigt. Freunde von Fake News könnten dieses Resultat nun benutzen um zu unterstreichen, dass ein schlechter Start vielleicht sogar besser als ein guter ist. Offensichtlich steigern sich die schlechten Starter aufgerüttelt von dem schwachen Anfang, die guten Starter hingegen ruhen sich auf ihren Lorbeeren aus und fallen ab. Auch das ist natürlich Humbug, wir beobachten hier lediglich das bekannte Phänomen der „Regression zur Mitte“, welches besagt, dass auβergewöhnlich gute oder schlechte Ergebnisse sich typischerweise danach wieder normalisieren.

Nachdem wir nun 2 Beispiele aufgezeigt haben, wie man solche Daten NICHT interpretieren/analysieren sollte, wollen wir nun schauen, was denn ein sinnvolle Statistik aus den Daten macht. Die „der Start ist besonders wichtig“-Theorie impliziert, dass eine ähnliche Serie zu einem anderen Zeitpunkt der Saison weniger Einfluss auf das Gesamtabschneiden eines Vereines haben sollte, d.h. Teams die z.B. an den Spieltagen 5-8 oder 13-16 10 oder mehr Punkte einfahren sollten nach dieser Theorie weniger davon profitieren als diejenigen die das gleich zu Beginn tun. Die folgende Grafik zeigt die Verteilung der Gesamtpunkte all derer Teams, die an vier auf einander folgenden Spieltagen startend mit Spieltag 1,5,9 ….usw 10 oder mehr Punkte geholt haben. Diese sogenannten "Boxplots" zeigen einen Kasten, der die zentralen 50% der Daten fuer jede Datengruppe präsentiert, wobei der mittlere schwarze Streifen den Median (50% aller Daten sind oberhalb, 50% unterhalb) anzeigt. Die beiden "Antennen" reichen bis zum höchsten und niedrigstem Wert.

Wie man sieht, gibt es keine drastischen Unterschiede zwischen den Verteilungen, auch ein statistischer Test ergab keinerlei signifikanten Unterschied. Am ehesten scheint es noch so, dass Teams mit einer Startserie seltener abgeschmiert sind als die mit guten Phasen in anderen Teilen der Saison, aber andererseits gilt das fuer die Serien an den Spieltagen 25-28. Insgesamt also liegt wenig Evidenz dafür vor, dass der gute Start wichtiger ist als ein guter März oder sonstwas.

Für die Negativserien gilt das ähnlich, wie die entsprechende Grafik unten zeigt Wenn überhaupt sieht es hier ein bisschen so aus als wäre ein schlechter Start weniger schlimm als eine schlechte Serie später (womöglich weil auch gute Teams manchmal schwer in die Pötte kommen, wenn es viele neue Spieler oder neue Taktik gibt), aber auch dies ist bei weitem nicht statistisch signifikant.

Angesichts der Tatsache, dass die Daten keinerlei Anzeichen dafür zeigen, dass der Start in eine Saison wichtiger ist als irgendeine andere Phase des Spieljahres, fragt man sich natürlich warum wir Fuβballfans diesen ersten Wochen der Bundesligaspielzeit trotzdem solch ein hohe Bedeutung beimessen. Ein Grund mag sein, dass man nach bis zu 3 Monaten Entzug einfach wieder heiss auf die Liga ist und die ersten Spiele besonders intensiv verfolgt. Das ist ein bisschen so wie die ersten Urlaubstage, die man auch immer besonders stark in Erinnerung hat, weil vieles erstmal neu und spannend ist.

Mir erscheint allerdings ein anderer Aspekt ebenso wichtig und zwar die Tatsache, dass wir die 34 Spieltage halt nicht auf einen Schlag präsentiert bekommen sondern sequentiell erleben. In einer typischen Bundesligawoche beschäftigt man sich vielleicht 2 Tagelang mit dem letzten Spiel seines Teams, aber danach denkt man doch schon wieder allgemeiner an die bisherige Saison und den momentanen Tabellenplatz. Und war das letzte Spiel vielleicht auch erfolglos, aber die Tabelle sieht immer noch gut aus, ist man bald wieder frohen Mutes. Und erinnert man sich dann daran, wie man eine Spielzeit erlebt hat, so hat der durchschnittliche Tabellenplatz den man bekleidete einigen Einfluss darauf. Das wird auch noch unterstrichen, durch die typischen Fiebercharts die Zeitungen oder Webpages gern präsentieren, in dem ein Saisonverlauf oft anhand der Entwicklung des Tabellenplatzes grafisch präsentiert wird (siehe z.B. hier; https://www.fupa.net/club/borussia-moenchengladbach/team/m1/chart). Der durchschnittliche Tabellenplatz gewichtet allerdings die frühen Spieltage viel stärker als die späteren. Mittelt man z.B nach dem 10. Spieltag die bisherigen Tabellenplätze so ist der erste Spieltag in jeder der Tabellen berücksichtigt, der 2. Spieltag neun mal, der 10. Spieltag aber nur einmal. Am Ende der Saison ist der erste Spieltag 34mal so oft dabei wie der letzte, d.h. in dieser Art der Wahrnehmung hat der Saisonbeginn wirklich eine besondere Stellung: Gewinnt man die ersten 3 Spiele wird man auf Wochen in der oberen Tabellenhälfte stehen; 3 Siege im Februar hieven einen vielleicht gerade von Platz 12 auf 8.

Man kann das gut am Beispiel von Hannover 96 im Vorjahr illustrieren. Ein dreizehnter Platz mit 39 Punkten ist für einen Aufsteiger ein gutes Resultat, aber auch keines Falls berauschend. In der Wahrnehmung der Fans (und auch meiner) war das aber eine prima Saison für die Niedersachsen, in der man lange Zeit in der oberen Tabellenhälfte weilte und zeitweilig gar von internationalen Fuβball träumen konnte und erst zum Schluss etwas abfiel. Man stelle sich aber nunmal vor, 96 hätte genau dieselben Resultate aber in umgekehrter Reihenfolge erzielt. Nur 7 Punkte nach 11 Spielen, nach der Hinrunde punktgleich mit dem HSV und Köln, nur dank der Tordifferenz auf Platz 15, eine wahre Zittersaison, die erst mit einem guten Schlusspurt noch gerettet wird. Im Endergebnis alles identisch, die Gesamtleistung auch, aber unsere Wahrnehmung der Saison ist eine komplett andere.

So gesehen ist ein guter Anfang dann doch enorm wichtig, nicht für das endgültige Abschneiden, sondern dafür wie wir so eine Saison erleben, wie wir sie erinnern. Jener 3:0 Sieg gegen Schalke im Sommer 1998 als Toni Polster nach nur 17 Sekunden traf war wertlos, da man später sang und klanglos abstieg. Aber damals war er wunderbar und das ist die Erinnerung die ich behalten will…nur ein Idiot würde behaupten, dass ein Bundesligaauftakt nicht wichtig ist!

Und so genieβen wir jetzt erstmal 2 Wochen lang die Tatsache, dass Borussia mal wieder auf einem fünftem Platz steht, freuen uns über die Abstiegsnöte von Leipzig, Leverkusen und Schalke und träumen von der golden Kanone für Plea. Alles gut!