Jubel„Das Wort wird einem im Munde alt“, seufzte im Wendejahr 1989 ein Bürgerrechtler der ersten Stunde, als sich die Ereignisse in der DDR überschlugen. Dass man nicht nur auf der großen Weltbühne, sondern auch auf der unvergleichlich unbedeutenderen Parallelwelt der Fußball-Bundesliga von der Schnelllebigkeit des Tagesgeschäfts überrollt werden kann, ist aktuell mal wieder zu besichtigen. Als sich Borussia Ende Dezember von André Schubert trennte, fühlte man den heißen Atem der Vereine auf den Abstiegsrängen im Nacken. Die obere Tabellenhälfte lag in weiter Ferne, jeder Gedanke an die Europacup-Ränge schien absurd. Zweieinhalb Monate später, und Dieter Hecking hat guten Grund, das Ende des Abstiegskampfs auszurufen. Im Idealfall könnte die Mannschaft schon am nächsten Spieltag auf Platz 6 springen. Und einiges spricht ja dafür, dass schon Platz 7 für Europa reichen wird – bis dahin ist es nur ein mickriger Punkt. Borussia darf sich sowohl im nationalen wie im internationalen Pokalwettbewerb noch Hoffnung machen. Heckings Team führt vor Bayern und Dortmund die Rückrundentabelle an. Zuletzt vor 44 Jahren, unter Hennes Weisweiler, startete eine Borussenelf so erfolgreich in eine Rückrunde.

Vieles, was glänzt, ist auch Gold – aber nicht alles. Das gilt für das Defensiv- wie für das Offensivspiel. Defensiv: Borussia hat ihre Anfälligkeit erheblich reduziert. Sie hat aber noch deutlich Luft nach oben. Offensiv: Borussia kann phasenweise mit bewährten Tugenden begeistern und hat neue dazu gewonnen. Sie leistet sich aber auch noch längere Auszeiten. All dies war auch am Samstagabend zu besichtigen.

Defensiv: Schalke hatte nicht viele Torchancen, Burgstaller kurz nach der Pause aber eine höchstkarätige. Eine Schalker Führung zu diesem Zeitpunkt hätte das Spiel zumindest verkompliziert – auch wenn die Borussia in der Rückrunde schon zweimal eindrucksvoll nachgewiesen hat, dass ihr Rückstand, selbst einer mit zwei Toren, nicht das Genick brechen muss. Die beiden Gegentore dagegen muss man nicht allzu streng bewerten. Beim ersten stellte sich Kramer zwar wenig geschickt an, die Elfmeterentscheidung nach leichter Berührung war dennoch eine sehr harte. Und was den Sekundenschlaf der Gladbacher Abwehr bei Goretzkas Treffer in der Schlussphase betrifft, mag man als mildernden Umstand anführen, dass die Partie zu diesem Zeitpunkt erkennbar schon entschieden war. Einer echten Spitzenmannschaft wären beide Gegentore vermutlich dennoch nicht passiert.

Dieter HeckingBorussias Defensive ist also nach wie vor nicht fehlerfrei. Im Vergleich zur Hinrunde ist die Fehlerzahl aber ganz erheblich gesunken: Auch da nutzen die Gegner nicht jede Torchance, bekamen aber viel mehr davon. Am Samstag kam Schalke selbst in der schwächsten Gladbacher Phase, Mitte der ersten Halbzeit, zu keinen nennenswerten Gelegenheiten. Unter dem Strich ist der Zuwachs an Ordnung unübersehbar. Es tut der Mannschaft sichtlich gut, dass Hecking vor allem in der Offensive (personell wie taktisch) auf Variabilität und Überraschungsmomente setzt, in der Defensive aber sehr viel stärker auf ein festes Korsett, mit Viererkette und großer personeller Kontinuität. In der Hinrunde gab es die Überraschungsmomente vor allem hinten. Die Wandlung von einem eher laufschwachen zum laufstärksten Team der Liga kommt sehr hilfreich hinzu.

Offensiv: Die Borussia nahm sich auch gegen Schalke ihre Auszeit. Nach sehr engagiertem und schwungvollem Beginn verlor sie den Faden, leistete sich zu viele Schlampigkeiten im Aufbauspiel und überließ den Gästen zu oft die Kontrolle im Mittelfeld. Aber: Wie schon in Hamburg zeigte sich auch hier wieder eine der neu entdeckten Gladbacher Qualitäten. Die Borussia wird auch in ihren schwächeren Phasen nicht mehr so leicht hektisch und konfus. Und sie hat dann doch immer wieder die eine brillante Aktion im Köcher, die das Spiel wieder in die gewünschten Bahnen lenkt. Zuletzt war dies oft Sache Lars Stindls, am Samstag war Fabian Johnson Mann des Abends. Sein Laufweg vor dem 1:0 war so großartig wie die technische Qualität seiner Direktabnahme. Dass die Schalker Abwehr sich in der Szene dumm anstellte, kam hilfreich dazu. Aber Herrmanns feine Vorarbeit und Johnsons toller Abschluss waren die Hauptingredienzien des Führungstreffers. Ganz ähnlich war es beim Pokalspiel in Hamburg: Auch hier fiel die Führung zu einem idealen Zeitpunkt. Und auch hier leistete die Hamburger Defensive dankenswerterweise Unterstützung. Aber zur Situation wäre es ohne Herrmanns entschlossenen Vorstoß nicht gekommen.

Mit welchem Spielwitz die Borussia vor allem in der zweiten Halbzeit die Schalker Abwehr filettierte, das hatte phasenweise schon wieder Champions League-Niveau. Zum Zungeschnalzen war vor allem die Entstehung des zweiten Tores, inclusive Hackentrick und Doppelpass. Mehr als nur ein Hauch von „Borussia Barcelona“ wehte hier durch den verregneten Borussiapark. Wunderbar herausgespielt aber auch Treffer drei und vier; man konnte ins Schwärmen kommen. Und hätte Ralf Fährmann nicht einen seiner Sahnetage erwischt, die Schalker hätten sich auch über eine noch höhere Niederlage nicht beklagen können. Vor allem bei Stindls erster Chance reagierte der Keeper schlichtweg überragend – sowohl die Vorarbeit zur Chance, als auch Stindls Torschuss hätten einen Treffer wahrlich verdient gehabt.

Dazu kommt, dass Borussia die Palette ihrer Möglichkeiten um entscheidende Farbtöne erweitert hat. In der Vergangenheit Fabian Johnsonlebte die Mannschaft fast ausschließlich vom Stilmittel der schnellen Kombinationen und war ratlos, wenn diese misslangen. Unter dem Duo Hecking-Bremser hat sie zwei weitere Elemente wiederentdeckt: Eckbälle und Flanken. Lange war ein Gladbacher Eckball der ideale Zeitpunkt, um sich noch ein Bier zu holen. Inzwischen machen sich Fans, die ihre Fahnen für einen möglichen Torjubel entrollen, nicht mehr lächerlich. Am Samstagabend war das zweite wiederentdeckte Stilmittel der Dosenöffner: die gute alte Flanke. Zwar vermisst man dabei manches Mal einen kopfballstarken Abnehmer im Sturmzentrum – und sofern ein Hahn oder Drmic sich im weiteren Verlauf der Rückrunde nicht noch nachdrücklicher aufdrängen, wird Borussia im Sommer für diese Position vielleicht nachlegen müssen. Aber dass man durch Spielintelligenz und technische Qualität scharfe Hereingaben vom Flügel auch anders verwerten kann, haben zuletzt Stindl und jetzt Johnson unter Beweis gestellt. Beinahe hätte Johnson kurz vor der Pause eine Quasi-Kopie des ersten Treffers nachgelegt. Der Laufweg war ähnlich stark wie beim 1:0, nur der Abschluss misslang diesmal. Beim 2:1 zeigte er sich dann ja zum Glück besser justiert. Wenn seine Vaterschaft solche fußballerischen Früchte trägt, dann wünscht man ihm das gleiche Schicksal, das das erste Buch Moses dem Abraham verhieß: Seine Nachkommen mögen sein wie der Sand am Meer und die Sterne am Himmel.

Man merkt: Borussias Spiel hat wieder Augenblicke, die den Berichterstatter lyrisch werden lassen. Ob mit ähnlichem Erfolg, wie er den Gladbachern in der Rückrunde beschieden ist, das freilich kann nur der geneigte Leser beantworten.