Unglaublich, was eine gute halbe Stunde Fußball ausmachen kann. In Mönchengladbach zum Beispiel verwandelt eine halbe Stunde Fußball die Stimmung der kompletten Anhängerschaft eines Fußballvereins von Defätismus in Euphorie. Angesichts dessen, was man als Borussen-Fan im Jahr 2019 bisher erleiden musste, mutet es nachgerade absurd an: Ganz Gladbach ist heiß auf den letzten Spieltag. Die Ausgangslage erklärt das zumindest partiell: Borussia kann sich mit einem Sieg – sofern Leverkusen in Berlin kein Schützenfest feiert – für die Champions-League qualifizieren. Dortmund kann, eine Bayern-Heimniederlage gegen Frankfurt vorausgesetzt, noch Deutscher Meister werden. Mehr Endspiel war lange nicht im Borussia-Park.

Nun galt bis zum Beginn der oben erwähnten 30 Minuten – gemeint ist natürlich das Spiel in Nürnberg ab dem überraschenden Gladbacher Führungstreffer – das Verpassen des internationalen Geschäfts als fast schon wahrscheinlichster Ausgang dieser merkwürdigen Spielzeit. Dass es jetzt auf einmal wieder die Champions-League sein kann, sorgt für erstaunliche Gefühlswallungen bei den Fans und zumindest verbal für ein explodiertes Selbstbewusstsein in Mannschaft und Funktionsteam. Dieter Hecking will sich mit dem vierten Platz aus Mönchengladbach verabschieden und die Spieler tragen eine auffallend breite Brust vor sich her. All das ist schön, aber angesichts dessen, was Borussia seit Februar gezeigt hat, auch etwas seltsam. War das Tor von Josip Drmic wirklich der Brustlöser, der alle Unbill von den geplagten Fußballerkörpern- und -köpfen abfallen ließ, so dass man gegen Dortmund eine völlig andere Mannschaft sehen wird als zum Beispiel gegen Hoffenheim oder in Nürnberg bis zu eben jenem Tor? Diese Mannschaft nämlich hätte gegen Dortmund nicht den Hauch einer Chance. Bei aller Euphorie sollten die Borussen-Anhänger das im Hinterkopf behalten. So ist die Aussage von Max Eberl zwei Tage vor dem Spiel hoffentlich auch eine lediglich pflichtgemäße: „Wir haben eine sehr gute Saison gespielt. Wir hatten sehr viele Höhen und haben auch eine problematische Phase gelöst“. Für eine „Phase“ waren die vergangenen Wochen doch arg lang. Und ob sie „gelöst“ ist, wird man sehen. Ein 4:0 gegen einen demoralisierten Absteiger ist, so wichtig es auch gewesen sein mag, ein etwas dünnes Indiz für diese These. In einem aber ist Eberl recht zu geben: „Wir können diese Saison am Samstag krönen“ fügt er an. Sollen sie.

Personell ergibt sich im Vergleich zum Nürnberg-Spiel eine Veränderung zwangsläufig: Florian Neuhaus ist nach seiner fünften gelben Karte gesperrt, für ihn wird aller Voraussicht nach Jonas Hofmann in die Startelf rücken. Der Ex-Dortmunder war in Nürnberg eindeutig ein belebendes Element und leitete mit einem Zuckerpass das 1:0 ein. Ob der Vollstrecker Josip Drmic erneut in der Anfangsformation stehen wird, ließ Dieter Hecking offen. Erstaunlicherweise scheint nach summa summarum enttäuschenden Gladbacher Jahren für Drmic jetzt sogar eine Ehrenrunde möglich. Ausschließen wollte Max Eberl, nach einer möglichen Verlängerung mit dem Langzeitpatienten gefragt, jedenfalls nichts. „Was nach der Saison passiert, wird man sehen“, sagte der Sportdirektor. Ob Borussia gut beraten ist, aus Dankbarkeit den Vertrag eines verletzungsanfälligen und überwiegend unterperformenden Spielers zu verlängern? Drmics Torquote nach seiner Rückkehr aus Hamburg ist zwar beeindruckend, dass er über weite Phasen der Saison gar keine Rolle spielte, wird aber auch Gründe haben – und nicht nur irrationalen Befindlichkeiten des Trainers zu verdanken sein. Ansonsten gibt es wenig Gründe, die Mannschaft von Nürnberg zu verändern.

Verändern wird sich das Aussehen der Spieler, denn Borussia tritt – wie im letzten Spiel jeder Saison inzwischen üblich – schon im Dress für die kommende Spielzeit an. Die neuen Trikots sind, das darf man übertreibungslos behaupten, die mit Abstand hässlichsten, die Borussia ihren Spielern jemals angedeihen ließ. Als vor einigen Wochen Bilder eines Trikots mit schwarz-grünem Batik-Design als angeblich „geleaktes“ Outfit die Runden machten, sorgte das noch für Heiterkeit. So etwas entwirft doch niemand im Ernst und bekommt auch noch Geld dafür, war die mehr oder weniger einhellige Meinung. Nun wissen wir: Tut doch jemand. Unter dem Einfluss welcher bewusstseinserweiternder oder womöglich eher -einschränkender Medikamente die Designer standen und warum man bei Borussia einen solchen Entwurf akzeptiert, ist jedem Menschen mit einem Funken ästhetischem Empfinden kaum zu vermitteln. Womöglich steckt der Trikotsponsor dahinter. Erstmals ist der gelbe Balken, bisher Grund für einige Fans, kein Geld für Trikots auszugeben, nicht das Schlimmste am Borussen-Outfit. Gegen das, was sich am Saum des Trikots befindet (ein Name dafür muss noch gefunden werden) mutet der Balken geradezu dezent an. Vielleicht ist das neue Trikot auch der Grund dafür, dass Borussia auf den letzten Metern der Saison doch noch Bemühungen erkennen lässt, das internationale Geschäft erreichen zu wollen. Irgendwie wird man die wegfallenden Merchandising-Einnahmen ja kompensieren müssen.

Borussia Dortmund kommt fast in Bestbesetzung nach Mönchengladbach. Die Sperre von Kapitän Marco Reus ist abgelaufen. Auf das Wiedersehen hätte man bei Borussia vermutlich gerne verzichtet, trifft Reus seit seinem Wechsel von zum Dortmunder Beispielverein doch immer gerne gegen seinen Ex-Arbeitgeber. Verzichten muss Dortmund wohl auf Außenverteidiger Diallo, auch die Torwartfrage ist noch offen. Roman Bürki könnte erneut verletzt fehlen und würde wie am vergangenen Wochenende von Marvin Hitz vertreten. Lucien Favre hat vor der Mannschaft seines Ex-Vereins gewarnt. Borussia sei gefährlich. Geadelt sollte sich in Gladbach ob dieser Einschätzung niemand fühlen, denn man erinnert sich: Die Mannschaft, vor der Lucien Favre nicht warnt, muss erst noch geboren werden.

Mögliche Aufstellungen

Borussia: Sommer – Beyer, Elvedi, Ginter, Wendt – Kramer – Zakaria, Hofmann – Traoré, Hazard – Drmic

Dortmund: Hitz – Piszczek,Weigl, Akanji. Guerreiro – Witsel, Delaney – Pulisic, Reus, Sancho - Götze

Schiedsrichter: Gräfe

 

Seitenwahl-Prognose

Christian Spoo: Wunder gibt es immer wieder, heute oder morgen können sie geschehen. Aber nicht am Samstag im Borussia-Park. Die 30 Minuten von Nürnberg sind nicht so bedeutend, wie wir das gerne hätten. Borussia unterliegt Dortmund mit 0:3. Der FC Bayern möge bitteschön verhindern, dass Favre und Reus im Borussia-Park die Schale bekommen.

Michael Heinen: Borussia hält gut mit, verliert aber unglücklich mit 0:2. Das reicht leider nur für Platz 5 und die Europa League.

Claus-Dieter Mayer: Lucien Favres Rückkehr in den Borussiapark wird zum Desaster. Feldüberlegene aber hochnervöse Dortmunder werden von effizienten Borussen eiskalt ausgekontert. Die Gladbacher ziehen mit einem absolut unerwarteten 5:1 in die Champions League.