Karl-Marx-Stadt, am 21. Mai 1980: Ein Achtjähriger sitzt mit seinem Vater vor dem knarzenden Küchenradio. Einen Fernseher gibt es in dem Haushalt (noch) nicht. Der terrestrische Empfang der Westsender ist wie immer schlecht, auch wenn Karl-Marx-Stadt nicht zum sogenannten „Tal der Ahnungslosen“ gehört, in dem man weder Westradio noch Westfernsehen empfangen kann (gemeint ist die Region um Dresden und noch weiter östlich, geprägt einerseits durch Abgeschnittenheit von unabhängiger Kommunikation und andererseits von einem unerschütterlichen Glauben an die eigene Exzeptionalität – eine schräge Mischung, die auch sowas wie PEGIDA hervorbringen kann). Beide hören gemeinsam (die Mutter ist wohl auch dabei, aber nur wegen der familiären Gemeinsamkeit) die Live-Übertragung des UEFA-Pokalfinals zwischen Eintracht Frankfurt und Borussia Mönchengladbach. Der Junge denkt damals noch, dass Mönchengladbach irgendwas mit München zu tun haben muss (zumal das auf sächsisch nicht so eindeutig klingt). Der Vater fiebert beim Stand von 0:0 dem Schlusspfiff entgegen, als in der 81. Minute Schreckliches geschieht: Frankfurt schießt ein Tor. Verloren. Enttäuschung. Leere.

Der Junge war ich und das verlorene Finalspiel in Frankfurt ist meine früheste konkrete Erinnerung an Borussia Mönchengladbach. Von da an war ich – wie mein Vater – Fan dieses Vereins. Woher er das hatte? Keine Ahnung. Die meisten DDR-Fussballfans hatten einen Verein im Osten und einen im Westen. Bei ihm war das für den Osten die BSG Chemie Leipzig, zu deren großer Zeit er in Leipzig Theologie studierte und die aufgrund missglückter sportpolitischer Entscheidungen der SED-Bezirksleitung jedenfalls in der Fanszene ein Sammelbecken all derer war, die dem damaligen System eher ablehnend gegenüber standen. Und im Westen Borussia Mönchengladbach – für die Siebziger sicher keine ganz unlogische Wahl. Vielleicht war mein Vater ein „Erfolgsfan“, vielleicht gefiel ihm die spezielle Spielweise der Fohlen vom Niederrhein, vielleicht war es aber auch nur innerfamiliäre Opposition gegenüber meinem Onkel, dessen Familienzweig aus ebenso selbstgewissen wie glühenden Bayernfans besteht und denen man einfach etwas entgegensetzen musste. Über das „Warum Borussia?“ haben wir nie richtig gesprochen – leider kann ich ihn nicht mehr fragen. Verstärkt wurde das auf jeden Fall durch einen guten Freund der Familie (der sich nach der Wende als „Inoffizieller Mitarbeiter“ der Stasi entpuppte), der ebenfalls Borussia im Herzen trug und der – wie auch immer er das machte – jedes Jahr das Kicker-Sonderheft aus dem Westen geschickt bekam, das wir dann geliehen lesen durften. Zu damaligen Zeiten war das eine absolute Rarität in der DDR, die normalerweise bei der Inhaltskontrolle der aus dem Westen geschickten Pakete herausgenommen (und vermutlich dem Eigenbedarf der Kontrolleure zugeführt) wurde.  

Als Gladbach-Fan in den frühen 80ern sozialisiert worden zu sein, ist vermutlich eine ganz dankbare Geschichte. Einerseits war ich durch die Gnade der späten Geburt davor bewahrt, die Erfolge der Siebziger zum Maßstab allen Denkens zu machen. Andererseits war der Verein immer noch erfolgreich genug, um nicht völlig hoffnungslos dazustehen. Eine gute Saison war es dann, wenn die Qualifikation für den UEFA-Pokal gelang (eigentlich wie heute, nur damals war der absteigende Ast nicht zu übersehen). Wie auch immer – im Gedächtnis geblieben ist mein erstes Borussen-Trauma, nämlich der Abgang meines Lieblingsspielers Kalle del’Haye nach München ebenso wie die 10 Siege in Folge am Ende der Saison 86/87, nur unterbrochen von dem unfassbar peinlichen Ausscheiden im Halbfinale des UEFA-Cups gegen eine schottische Holzhackertruppe namens Dundee United. Einfach war die Zeit dennoch nicht: Live-Spiele im Fernsehen gab es kaum, wenigstens war Borussia als Mannschaft des vorderen Tabellendrittels sehr regelmäßig bei den 3-4 Zusammenfassungen in der Sportschau dabei. An einen Stadionbesuch verschwendete natürlich niemand auch nur einen Gedanken, die Mauer war schließlich für die Ewigkeit gebaut und den Sozialismus in seinem Lauf hielt damals weder Ochs noch Esel auf. Zudem war ich in meinem Freundeskreis der einzige Gladbach-Fan weit und breit. Die meisten hielten es mit Bayern, dem HSV oder Bremen. Unvergessen für mich die Szene, als es am 26.April 1986 im Stadion des FC Karl-Marx-Stadt zu Rangeleien innerhalb des Heim-Fanblocks kam, weil sich dort wegen des zeitgleich laufenden letzten Bundesligaspieltags die Bayern-Fans und Bayern-Hasser in die Quere kamen. Borussia spielte dabei leider eine unrühmliche Rolle – das 0:6 gegen Bayern verhalf denen zur Meisterschaft (auch wenn das Kutzop schon ein paar Tage vorher versemmelt hatte).  

Mauerfall und Wiedervereinigung waren natürlich für mich in jeder Beziehung eine Zäsur. Ausgestattet mit dem 1990 vergebenen letzten DDR-Abitur ging ich nach Heidelberg zum Studium. Fußball spielte Anfang der Neunziger keine große Rolle mehr und so kommt Borussia Mönchengladbach in den auf meinem PC abgespeicherten Briefen an meinen Vater eher peripher vor. In diesen Jahren hat nicht viel dazu gefehlt, dass meine Identifikation mit dem Verein einfach irgendwie verflogen wäre. Im Gedächtnis konkret präsent ist mir aus dieser Zeit nur eine völlig vermieste Gartenparty im Mai 1992, auf die ich eigentlich gar nicht mitgehen wollte und auf der ich inmitten von aus Prinzip zum Außenseiter haltenden Kurpfälzern das Pokalfinale gegen Hannover 96 miterleben durfte. Der Haussegen hing danach gewaltig schief.

Was hat mich als Fan für Borussia Mönchengladbach gerettet?

Zum einen Bernd Krauss und die Erfolge Mitte der Neunziger – da war nach wirklich grauen Jahren für kurze Zeit wieder mal etwas, mit dem man sich identifizieren konnte.

Zum anderen war das ein neues Medium: das Internet. In Zeiten, in denen man außerhalb der unmittelbaren Region ausschließlich den Kicker zur Verfügung hatte, wenn man sich über den Verein seines Herzens informieren wollte, war das eine Revolution. Plötzlich – und noch vor den Homepages der einschlägigen Tageszeitungen – gab es da Seiten, die einen täglich (oder wenigstens viel öfter als bisher) mit Neuigkeiten rund um den Verein versorgten. Mein erster Anlaufpunkt war der schnell wieder eingestellte „Fohlen-Flash“, der zweite ab 1997 SEITENWAHL – eine Seite, die recht schnell zu meiner Startseite für Borussenbelange wurde und das bis heute geblieben ist. Damals hätte ich mir nicht träumen lassen, diesen Artikel einmal als Redakteur der Seite zu schreiben – zu groß war die Ehrfurcht vor solchen Leuten wie Hans-Jürgen Görler (Hatte der eigentlich auch einen Spitznamen?), den verschachtelsatzten und jeden vernünftigen Umfang sprengenden Spielerporträts von Maverick, den intellektuellen Statements von LoBo. Es war in jedem Fall genau das, was Joachim Schwerin in seinem Jubiläumsartikel als den Ansatz von SEITENWAHL beschrieb, was mich an der Seite faszinierte und festhielt: Geschrieben von Fans, ohne sich beim Verein anzubiedern, intellektuell weit über die auf das Tagesgeschäft fixierten Sportmedien hinausgehend, kritisch und immer auch Blicke über den Tellerrand werfend.

Wenn man mich heute fragt, was SEITENWAHL für mich bedeutet: Lieber HJG, lieber Maverick, lieber LoBo und lieber Juke (um nochmal die alten Spitznamen herauszukramen) – hätte es in dieser Phase, einer für den Verein unrühmlichen Zeit mit dem ersten Abstieg und einer teilweise auch unsäglichen Außendarstellung, SEITENWAHL nicht gegeben, wäre meine Geschichte mit Borussia Mönchengladbach wahrscheinlich schleichend zu Ende gegangen, wahrscheinlich meine Geschichte als Fußballfan insgesamt. Dass es anders kam, dafür möchte ich Euch danken.

Zu SEITENWAHL gehörte ziemlich von Anfang an – genau weiß ich das nicht mehr – ein von den Nutzerzahlen überschaubares, jedoch sehr lebendiges Diskussionsforum, welches ich über lange Jahre als ausschließlich passiver Leser intensiv begleitet habe. Auch hierfür gilt damals wie heute: Trotz gelegentlicher Trollereien unterscheiden sich das Diskussionsklima und vor allem die inhaltliche Qualität der Beiträge wohltuend von der vergleichbarer (Fan-)Foren. In diesem Forum aktiv zu schreiben war wiederum eine Zäsur in meinem Verhältnis zu Borussia Mönchengladbach – eine, zu der mich die damalige Redaktion mit der Entscheidung, einen Registrierungszwang einzuführen, regelrecht gezwungen hat. Die aktive Auseinandersetzung mit Themen wie Taktik, der generellen Ausrichtung und den Finanzen des Vereins, Überlegungen zum Binnenklima bei Borussia sowie manche Aspekte der Personalpolitik führte irgendwie dazu, dass meine Texte im Forum immer länger wurden. Jedenfalls dann, wenn ein entsprechendes Feedback kam, das mich veranlasste, meine eigenen Positionen zu hinterfragen. Gelegentlich habe ich immer mal wieder darüber nachgedacht, etwas für die Homepage anzubieten. In den Tiefen meiner Festplatte schlummert noch irgendwo ein in der Pander-Ära begonnener Text, in dem ich mich frage, ob diese Borussia eigentlich noch mein Verein sein kann. Wahrscheinlich bin ich nicht der Einzige, der sich in dieser Phase dieselbe Frage gestellt hat.

Am Ende bedurfte es eines zufälligen Kontaktes mit Thomas Häcki, der mir von einem sozialen Netzwerk als potentieller Kontakt vorgeschlagen wurde, um – Fußballerdeutsch !!! – „den nächsten Schritt zu gehen“. Immer mit den Hintergedanken: „Mach Dich nicht lächerlich, die warten nicht auf Dich!“ und „Was willst Du aus der Entfernung eigentlich beitragen?“. Nun ja, mein Angebot lautete auf Spielberichte aus dem Südwesten, die Antwort war: Vollmitglied.

Die letzten knapp 2 Jahre, in denen ich für SEITENWAHL schreibe – wie schnell vergeht die Zeit – haben mir persönlich großen Spaß gemacht, mich aber auch Demut gelehrt. Wie zeitaufwändig es ist, veröffentlichungsfähige Texte für die Homepage zu verfassen, habe ich brutal unterschätzt. Genauso, wie groß der Unterschied zwischen Forenöffentlichkeit und Öffentlichkeit ist: Wo man im Forum schnell mal ein hingerotztes „Der Trainer muss weg!“ oder „Spieler XY ist nicht bundesligatauglich!“ in die Runde werfen kann, überlegt man sich bei einem öffentlich für jedermann lesbaren Artikel aus einem gewissen Verantwortungsgefühl heraus besser zweimal, ab wann man seine Überzeugung, dass es mit einer Personalie so nicht weitergehen kann, herausposaunt und wie man diese im Fall der Fälle begründet. Gerade der Jubiläumsartikel von Joachim Schwerin hat gezeigt, welch große Fußstapfen die Gründer und Ehemaligen von SEITENWAHL uns hinterlassen haben. Für mich persönlich heißt das: Ich freue mich auf die Fortsetzung, ich freue mich, Teil derselben zu sein, ich bemühe mich, dem gerecht zu werden.

Zuletzt muss ich noch ein trauriges Kapitel aus der Forengeschichte von SEITENWAHL ansprechen: Wir hatten lange Jahre einen sehr liebenswerten User unter dem Namen „RobertNAtl“, wobei das „Atl“ für Atlanta, Georgia, USA, stand. Irgendwann blieb Robert, der jede Woche auf ein 5:1 für Borussia tippte (keine Ahnung, ob dieser Tipp jemals eingetreten ist, vermutlich nicht), einfach weg. Was mich wunderte, seinen Klarnamen googeln ließ und mich am Ende auf eine Kondolenzseite führte. Die Reaktion des Forums (Danke, Floyd74, fürs Organisieren des Versands!) auf diese Nachricht ist weit vor Abstiegen, Aufstiegen, Champions-League-Spielen, Trainerwechseln mein emotionalster Moment mit SEITENWAHL.