Seitenwahl IMG 0496

Sollen sie oder sollen sie nicht? Die Frage ob die Bundesliga-Saison 2019/20 im Mai weitergeführt werden kann, darf, soll oder gar muss, spaltet die Nation. Am 6. Mai soll nun angeblich die endgültige Entscheidung fallen, auch wenn dieser Tage ein klares „Vielleicht“ nicht überraschen würde. Höchste Zeit also, dass mal jemand ein Machtwort von sich gibt, Tacheles redete, klaren Tisch macht, die Dinge beim Namen benennt und zur Sache kommt. Und wer könnte das besser tun als die Seitenwahl-Redaktion (entsprechende Vorschläge bitte aufschreiben und sonstwo hinstecken) ? Was dabei rumgekommen ist könnt ihr im folgenden lesen: 

Claus-Dieter Mayer:

2020 wird uns nicht wegen der Dinge in Erinnerung bleiben, die wir erlebt haben, sondern wegen derer die wir verpasst haben: Den geplanten Umzug in den Großraum Glasgow, die 75. Geburtstags-Feier der Schwiegermutter und eben das letzte Viertel der Bundesliga-Saison 19/20, die nicht nur aber besonders für Gladbach-Fans versprach eine der faszinierendsten der letzten Jahre zu werden. Selbst falls der Spielbetriebe wie auch immer im Mai wieder aufgenommen werden sollte wird die Saison immer „Die Unvollendete“ bleiben. Allein schon die zeitliche Verzögerung von gut 2 Monaten macht es unmöglich vom gleichen Wettbewerb zu sprechen: Formkrisen, Verletzte, etc., jedes Spiel wird unter komplett anderen Voraussetzung stattfinden als es sonst der Fall gewesen wäre. Das gilt natürlich umso mehr, wenn man die Corona-bedingten zusätzlichen Begleit-Maßnahmen (Geisterspiel, Masken, Trainingseinschränkungen, …) noch hinzunimmt.

Ist es daher ein Riesenunfug, die Saison unter solch seltsamen Umständen zu Ende spielen zu wollen? Nicht unbedingt. Zunächst gilt es natürlich zu überprüfen, ob das Ganze überhaupt machbar ist, ohne Spieler, Umfeld oder auch andere Teile der Bevölkerung gesundheitlich unzumutbar zu gefährden. Ich zweifle im Moment daran, aber nehmen wir einfach mal an, all diese Probleme könnten hinreichend gelöst werden. Rein finanziell gesehen ist es dann auf jeden Fall für die Vereine extrem wichtig, die Saison zu beenden und so unsympathisch einem Rummenigge, Watzke oder andere Funktionäre sein mögen, die auf so etwas gern rumreiten, während der Rest der Welt sich Sorgen um die Gesundheit der Eltern und Großeltern macht, so muss man den Herren zu Gute halten, dass ihr Job nicht die Rettung des Gesundheitswesens oder die Unterstützung der Volksmoral ist, sondern zunächst mal das Wohl ihrer Vereine. Wie Max Eberl gezeigt hat, kann man das auch tun ohne unangenehm aufzufallen, aber der eigentliche Tatbestand, dass ganz viele Vereine ohne weitere Spiele große Probleme bekommen werden (wie natürlich auch weite Teile der Wirtschaft bei anhaltendem Lockdown, aber um die geht’s hier nicht so sehr), lässt sich nicht bestreiten.

Auch rein sportlich hätte eine Weiterführung der Saison Vorteile. Ähnlich wie Verlängerungen, Golden Goal oder Elfmeterschießen nicht dasselbe sind wie eine Entscheidung im normalen Spiel, aber doch erheblich befriedigender als eine Entscheidung per Münzwurf oder gar das Ausbleiben einer solchen, so gäbe es zumindest eine Entscheidung auf dem Platz. und nicht eine von älteren Herren im grauen Anzug in einem Sitzungszimmer oder – noch schlimmer – eine Abschlusstabelle, die auf schlaumayerischen statistischen Vorhersagen beruht. Natürlich wird niemand so richtig glücklich sein nach der Beendigung der Spielzeit unter solch ungewöhnlichen Bedingungen. Selbst wenn die Borussia (wie Florian Neuhaus kürzlich in der Presse ja forsch ankündigte) am Ende gar Erster sein sollte, wird es immer nur die „Corona-Meisterschaft“ bleiben, mal ganz abgesehen davon, dass die Meisterschaftsfeier mit Social Distancing auch nicht das werden wird, wovon wir alle seit Jahren träumen. Aber, dass jemand in diesem vermaledeiten Jahr so richtig glücklich wird, ist vermutlich auch etwas viel verlangt.

Aber „die Leute wollen das gar nicht“ hört man vieler Orten und in der Tat gibt es Umfragen, die Widerwillen in der Bevölkerung gegen die DFL-Pläne andeuten. Dahinter steckt vermutlich nur zum Teil eine „auf Fußball habe ich momentan keine Lust“-Haltung, sondern eher das Misstrauen, hier würden nur des schnöden Mammons wegen nicht-tragbare Risiken (vor allem für die Spieler und ihr Umfeld) eingegangen. Das bringt uns auf die oben erwähnte Machbarkeit zurück, an der ich persönlich stark zweifle. Ich sehe im Moment z.B. keine echte Lösung für das Problem, das auftritt sobald es während der Restsaison Corona-Fälle in den Teams geben wird, was bei der großen Anzahl der Beteiligten sehr wahrscheinlich ist (wie die neuesten Fälle beim FC Köln belegen). Sollte man aber einen Weg finden, der diese Risiken minimiert und der der Allgemeinheit vermittelbar ist, so bin ich ziemlich sicher, dass die Stimmung zumindest unter Fußballfreunden schnell umschlagen wird, sobald es wieder losgeht.

Ob ich mich auf diese mögliche Fortführung der Saison freue, kann ich im Moment selbst nicht so recht sagen, aber ich bin definitiv neugierig, wie das wohl aussähe und kann mir durchaus vorstellen, dass in der momentanen Tristesse, dass „beautiful game“ auch unter seltsamen Umständen seine Zauberkraft hat.

 Christian Spoo: Die Argumente pro und contra Saisonfortführung hat Kollege Mayer aufgeführt. Welchen man mehr oder weniger Gewicht beimisst, hängt nicht nur von rationalen oder weltanschaulichen Aspekten ab, sondern beim Thema Corona auch stark von Befindlichkeiten. Die Diskussion über das richtige Verhalten, die Sinnhaftigkeit von Verboten und die Möglichkeit ihrer Lockerung ist nicht zuletzt davon abhängig, wie viel Angst der jeweilige Diskutant um seine eigene Gesundheit und die seiner Lieben hat. Wer jetzt abwinkt und sagt "Ich halte mich bloß an die Fakten" - tja. Es sind so viele vermeintliche und echte davon zu lesen und zu hören, so viele, auf die man sich bisland keinen rechten Reim machen kann. Akzeptieren wir doch einfach, dass wir alle nicht wirklich viel wissen und vielleicht sogar, dass wir nicht schlauer sind, als das Gegenüber, auch wenn uns das, was es verzapft, nicht gefällt. Will sagen: Wie machbar, vernünftig, vertretbar es wäre, die Fußball-Bundesliga im Mai wieder spielen zu lassen, kann niemand letztgültig beantworten. Man wird es womöglich ausprobieren dürfen und dann sehen: "Geht nicht, weil das Virus im System auftaucht", "geht, macht aber niemandem Spaß", "geht und ist ganz unterhaltsam" oder was auch immer. Stand jetzt habe ich keine Lust auf Bundesliga-Fußball unter Corona-Bedingungen, aber wer weiß, ob der rollende Ball in mir die alte Lust wieder weckt. Womöglich wird die Restsaison, so sie denn stattfinden darf, aber auch der finale Beweis, dass die Corona-Krise den Fußball tatsächlich über die Klippe gestoßen hat und das ganze System auf einer Ebene ein paar Etagen tiefer landet. Dann nämlich, wenn die Nachfrage nach dem aufwändig hergestellten Produkt wirklich so gering ist, wie die oben erwähnten Umfragen derzeit nahelegen.

Thomas Häcki: Im liebevoll, witzigen Animationsfilm "Ratatouille" bestellt der berühmte Restaurantkritiker Ego beim Koch ein wenig "Perspektive". Dieser Bestellung würde ich mich nur all zu gerne anschließen. Doch wie soll diese Perspektive aussehen. Am besten wäre natürlich eine baldige Fortsetzung der Saison mit Zuschauern und vollen Rängen. Angesichts einer weiterhin angespannten Stimmung mit undifferenzierten, hysterisch agierenden Medien ist die Wahrscheinlichkeit einer politischen und gesellschaftlichen Akzeptanz hierfür gleich Null. Das andere Ende der Möglichkeiten besteht in einem sofortigen Abbruch der Saison, gepaart mit einem Einfrieren der Tabelle und den entsprechenden Auswirkungen für die nächste Saison. In diesem Szenario kann man sich allerdings vermutlich die Diskussionen über Auf- und Abstieg ersparen, weil es zahlreiche Clubs schlichtweg nicht überleben würden. Vermutlich nicht einmal die 50+1 Regel, so dass der von uns geliebte Sport noch mehr zu einer Marketingveranstaltung von Konzernen und Milliardären verkommen würde - Red Bull und Volkswagen lassen grüßen. Die Wahrheit wird also bekanntlich in der Mitte liegen - eine Fortführung der Saison vor leeren Rängen. Schön ist dies nicht, zudem auch sportlich stark wettbewerbsverzerrend. Auch Lautsprecher und Pappkamaraden werden hier nicht helfen. Langfristig würde diese Lösung allerdings auch nicht helfen, weil spätestens nach der Saison ein Ausverkauf bei den Vereinen droht, die überpropotional auf ihre Fans angewiesen sind. Intelligent wäre ein Rettungsschirm des DfB und der DFL gemeinsam mit deren betuchten Sponsoren und helfenden Regeln für die gefährdeten Clubs (wie wäre es die TV-Gelder etwas anders zu verteilen?). Möglich wäre dies vermutlich, denn das Produkt Bundesliga wird auch in Zukunft attraktiv sein. Aber ist das wahrscheinlich? Vermutlich nicht. Und so werden wir beobachten, dass als Ergebnis des Ganzen Dramas die Schere noch weiter auseinander geht und die Liga an Spannung verliert. Daher mein Fazit: Brecht die Saison ab und macht euch Gedanken über etwas mehr Solidarität innerhalb des Systems. Die Liga lebt letztendlich von allen Beteiligten.

Michael Heinen: Die letzten Wochen und Monate sollten selbst dem fußballverrücktesten Fan verdeutlicht haben, dass es tatsächlich Wichtigeres gibt als die schönste Nebensache der Welt. Selbst wenn Deutschland bislang dank schneller und bestimmter Maßnahmen, die übrigens weit weniger streng waren als in vielen anderen Ländern, noch relativ glimpflich davon gekommen ist: Nahezu alle ernstzunehmenden Experten sind sich darin einig, dass wir immer noch am Anfang dieser Pandemie stehen, von der keiner weiß wie sie weiter verlaufen und wie lange es dauern wird bis ein Impfstoff oder zumindest ein geeignetes Medikament zur Marktreife gelangt und uns wieder einen Weg zurück zu echter Normalität ebnen kann. Der Fußball hat - wie alle anderen Branchen - ein berechtigtes Interesse daran, bei der ethisch extrem schwierigen Abwägung zwischen dem erforderlichen Schutz der Risikogruppen und den daraus potentiell resultierenden wirtschaftlichen wie sozialen Folgen, wohlwollend berücksichtigt zu werden.

Um Vereine wie Schalke 04, die sich in den vergangenen Jahren mit ihrem Finanz-Harakiri-Stil erhebliche Wettbewerbsvorteile u. a. gegenüber der stets solide wirtschaftenden Borussia ermogelt haben, wäre es nicht schade, wenn sie aus dieser Krise als Verlierer hervorgingen. Die Erfahrung lehrt aber, dass gerade diese Klubs, die gemeinhin als "too big to fail" gelten, in solchen Situationen als allererste ihre unverdiente Rettung erfahren - man frage nach beim Reviernachbarn aus Dortmund, der vor 15 Jahren auf skandalöse Weise u. a. von der DFL vor dem Ruin bewahrt wurde. Mehr zu verlieren haben stattdessen Klubs wie Paderborn oder Union Berlin, deren Untergang von der Fußballbranche schon eher als "verschmerzbarer Kollateralschaden" akzeptiert würde. Wer glaubt ernsthaft, die Fußballwelt werde in dieser Situation ernsthafte Solidarität zeigen und sich in den kommenden Nach-Corona-Jahren geläutert und bescheiden präsentieren? Es wird PR-trächtige Brosamen für die kleineren Vereine geben. Eine echte Umverteilung von oben nach unten, die dem europäischen Fußball und ihrem Wettbewerbsgedanken ganz unabhängig von Corona sehr gut zu Gesicht stünde, ist dagegen nicht zu erwarten. Eine ebenso vernünftige wie leider unrealistische Lösung wäre es, wenn sich alle großen europäischen Ligen gemeinsam mit der UEFA darauf verständigen könnten, ihre Spielzeiten zu beenden und gleichzeitig ein Konzept ausarbeiten, wie sie mit den üppigen Geldern und Reserven aus der Champions League das Überleben und den Wettbewerb insbesondere der kleineren Vereine garantieren.

Die demütig klingenden Aussagen der Herren Seifert, Rummenigge und Co. in diesen Tagen lassen nicht wirklich auf echte Läuterung schließen, dienen sie doch allein der Besänftigung der Öffentlichkeit. Die fragt sich nämlich zurecht, warum Fußballprofis z. B. schon jetzt flächendeckend getestet werden können, während zig Tausende Dienstleister, insbesondere im Gesundheitswesen, mit unzureichender und mangelhafter Schutzkleidung und bislang noch ohne konkrete Aussicht auf ähnliche Tests arbeiten und so täglich ihre Gesundheit gefährden müssen. Das sind die wahren Helden unserer Gesellschaft und für die gilt es in diesen Tagen zuvorderst Lösungen und Konzepte zu finden. Wenn diese gesichert sind, dann kann sich die Politik anschließend gerne mit der Frage beschäftigen, ob die Bundesliga zu ihrem sportlich total verzerrten und kaum ernstzunehmenden Saisonende finden darf. Allein solch bizarre Überlegungen wie ein Spiel mit Masken, die mindestens alle 15 Minuten zurechtgerückt werden müssen, oder die Übertragung von virtuellen Fangesängen und Applaus per App an die Stadionlautsprecher, lassen allerdings sehr an der Sinnhaftigkeit dieses Unterfangens zweifeln.