Es ist ein beliebtes Merkmal zahlreicher Fußballfans, sich und ihren Verein als Opfer eines gemeinen Schicksals zu wähnen und sich so über tragische Niederlagen(serien) hinwegzutrösten. Besonders ausgeprägt ist dies z. B. auf Schalke, wo man sich seit Jahrzehnten in der Rolle des stets tragisch Scheiternden gefällt. Aber auch die Gladbacher müssen sich hier nicht verstecken. Ob Büchsenwurf, van der Kroft oder gar das legendäre 12:0, das letztlich nicht zur Meisterschaft reichte. Borussia definiert sich und seinen Mythos zu nicht unwesentlichen Teilen aus besonderen Niederlagen. Die Spiele gegen Real Madrid lieferten bereits zweimal in der Vereinsgeschichte ein klassisches Beispiel – einmal dank des holländischen Schiedsrichters, dessen Name in diesem Beitrag schon einmal zu oft genannt wurde – einmal dank einer fulminanten Aufholjagd der Königlichen im heimischen Bernabeu. Am kommenden Mittwoch könnte dieser Reihe ein drittes Exempel hinzugefügt werden – wenn Borussia als Tabellenführer der Todesgruppe B in die spanische Hauptstadt reist und von dort evtl. nur noch als Europa-League-Teilnehmer zurückkehren könnte.

Doch diese negativen Gedanken gehen im Grunde schon zu weit, bergen sie doch die Gefahr einer sich selbst erfüllenden Erwartung und eines Alibis, das sich im Unterbewusstsein der Spieler festsetzt. Während eine Niederlage in Bernabeu grundsätzlich noch verzeihlich wäre, so ist es weniger, dass Borussia seit nunmehr 13 Jahren im Breisgau nicht gewinnen konnte. Rob Friend und zweimal Sascha Rösler waren die letzten Torschützen, die im Dezember 2007 zu einem Gladbacher Sieg beim SC Freiburg beigetragen haben – damals noch in der 2. Bundesliga. Seitdem gab es neun Freiburger Siege und nur zwei Unentschieden. Vor dem Hintergrund könnte man argumentieren, dass das 2:2 an diesem Samstag gar kein so schlechtes Resultat gewesen ist.

Indem in der Woche vor diesem Alptraumspiel eines jeden Borussen-Fans die unsägliche Serie in allen Medien immer wieder thematisiert wurde, erreichte dies mit Sicherheit auch die Köpfe der Spieler beider Vereine. Wenn dann in den ersten Minuten bei einem Gladbacher der erste Ball versprang oder beim Gegner landete, werden es einige Spieler nicht vermieden haben daran zu denken und zu befürchten, es ginge jetzt schon wieder so los wie in den letzten 13 Jahren. Andersherum werden einige Freiburger bei der ersten gelungenen Aktion genau andersherum gedacht und daraus Selbstbewusstsein geschöpft haben. So lässt sich zumindest zum Teil erklären, was ansonsten rational unerklärlich ist.

Borussia selbst hat in den letzten Jahren des Öfteren bewiesen, wie endlich solche Serien sind. Ob in München, Hoffenheim, Augsburg oder Bremen, ob gegen Leipzig oder Leverkusen. Gegen all diese Vereine gab es jahrelange Pleiteserien, die Borussia allesamt pulverisierte. Und sie wird es früher oder später auch in Freiburg tun. Die Wahrscheinlichkeit hierfür bleibt unbeeindruckt davon, wie oft es in der Vergangenheit schiefgegangen sein mag. Wichtiger ist, dass die Borussen-Spieler irgendwann einmal unbeeindruckt genug sind vom unsinnigen Aberglauben, dass ein Fluch über diesem Spiel läge, und stattdessen ihre Qualitätsvorteile in ausreichendem Maße ausspielen.

Am Samstag war dies leider nicht der Fall. Ganz im Gegenteil: Dem SC Freiburg gelang es, die Partie über weite Strecken zu dominieren und sich eine Vielzahl an hochkarätigen Torchancen zu erspielen. Das 2:2 war daher am Ende sogar noch eher schmeichelhaft für Borussia, wenngleich diese u. a. durch Patrick Herrmann ebenfalls mehrere Chancen zum Sieg gehabt hat. Letztlich hatte sie den Punktgewinn aber speziell Yann Sommer zu verdanken, der einige Bälle herausragend hielt.

Seine Vorderleute dagegen setzten ihre Defensivanfälligkeit der vergangenen Wochen fort. Mit Bensbaini, Elvedi und Jantschke fehlten drei mögliche Kandidaten für die Innenverteidigung. Jordan Beyer hatte diese Saison noch keinen Profieinsatz, war erstmals im Kader und spielte nach überstandener Corona-Erkrankung zuletzt zweimal für nur eine Halbzeit bei der U23. Er stand daher nur als absolute Notlösung im Kader und wäre vermutlich erst bei einer weiteren Verletzung eines defensiven Startelfspielers in Frage gekommen. Stattdessen vertraute Marco Rose in der Innenverteidigung neben Matthias Ginter auf Christoph Kramer, der in ungewohnter Rolle aber offensichtlich fremdelte und an seine starken Leistungen der letzten Wochen nicht anknüpfen konnte.

Da auch seine Defensivkollegen keinen Glanztag erwischten, war Borussia nicht nur bei Standardsituationen höchst anfällig und hätte gut und gerne 4 oder 5 Gegentore kassieren können. Dies ist nicht nur bei einem durchschnittlichen Bundesligisten wie Freiburg inakzeptabel und macht wenig Mut für die Finalpartie beim internationalen Topklub aus Madrid.

Was Mut macht: In der Champions League hat es Borussia in dieser Saison stets verstanden, sich zu steigern gegenüber teilweise mauen Auftritten in der Bundesliga wie gegen Union oder Wolfsburg. Um gegen Klubs wie Inter oder Real zu punkten, muss einiges gut laufen für Borussia. Das tat es in der vergangenen Woche gegen Mailand leider nicht, weshalb es eine verdiente 2:3-Niederlage gab. Auch in Madrid wäre eine Niederlage eher keine Überraschung. Borussia und ihre Fans sollten aber nicht den Fehler machen, sich bereits vor der Partie in eine Opferrolle zu begeben und unnötig kleinzumachen. Die letzten Monate haben gezeigt, dass Borussia mit den internationalen Schwergewichten in einzelnen Spielen mithalten kann und in Bestbesetzung und -form mittlerweile eine extrem hohe Qualität aufweist. Spieler wie Zakaria, Ginter, Plea oder Thuram stehen nicht ohne Grund auf dem Notizblock so einiger europäischer Topklubs. Warum sollte ihnen nicht an einem guten Tag auch in Madrid ein Punktgewinn gelingen können? Zumal es anders als 1985 keine aufpeitschende Stimmung im Stadion geben wird, die damals das Selbstbewusstsein der Borussen hemmte.

Es ist bequem, es sich nach einer Niederlage oder in Antizipation einer solchen vorab in der Rolle des ewig tragisch Scheiternden gemütlich zu machen und entweder den bösen Schiedsrichter oder das noch bösere Schicksal für das eigene Leid verantwortlich machen. Das liefert in gewisser Weise Erklärungen und tröstet das Seelenheil. Wer es dafür braucht, dem sei es gegönnt. Der Verein sollte aber nicht den Fehler machen, ähnlich zu denken. Die Aussagen von Marco Rose deuten stark darauf hin, dass er dies ganz bestimmt nicht tut. Borussia hat in seiner Historie mehr Positives als Negatives erlebt. Die fünf Meistertitel und zwei UEFA-Cup-Siege mögen schon eine Weile her sein, aber auch in der Zeit seit 2011 gab es so viel Erfreuliches, an das es sich zu orientieren lohnt.

Copyright: Ulrich Hufnagel/Hufnagel PR

Klar kann man die Niederlage gegen Mailand zum Teil dem Schiedsrichter anlasten, der in der einen oder anderen zweifelhaften Aktion nicht gerade Borussia bevorteilt hat. Das Abseitstor zum 3:3 wurde leider nach aktueller Regelauslegung zurecht nicht gegeben. Eher schon wäre das rüde Einsteigen gegen Thuram vor dem 1:2 einen Pfiff wert gewesen. Doch wenn man ehrlich ist, lag es am allerwenigsten am Schiedsrichtergespann und deren Herkunft. Inter war an diesem Abend einfach besser und hatte mit Lukaku einen abgezockten Weltklassestürmer, gegen den selbst ein Denis Zakaria noch Lehrgeld zahlen musste. Marco Rose und Christoph Kramer fanden daher nach der Partie vernünftige Worte, indem sie zwar die eine oder andere Entscheidung des Referees hinterfragten, die Niederlage letztlich aber zurecht nicht daran festmachten. Es böte schädliche Alibis, wenn man stärker den allzu pünktlichen Schlusspfiff des Schiedsrichters thematisieren würde als über die Verbesserungspotentiale zu reden, die derzeit besonders in der Defensive bestehen. Hier bleibt zu hoffen, dass mindestens Jantschke und/oder Elvedi schnellstmöglich wieder fit werden.

Aber auch das Management wird sich im Winter hinterfragen müssen, ob die Personaldecke hinter dem international hochklassigen Stammteam über ausreichende viele Qualitätsspieler verfügt, um in Bundesliga und Champions League auf höchstem Niveau durch die Saison zu kommen. Bei den Neuzugängen Lazaro und Wolf besteht die Hoffnung, dass sie sich im Laufe der Zeit steigern können. Auch wenn gerade der Ex-Leipziger bislang noch mit viel Schatten neben diversen Lichtstrahlen auffällt, darf hier auf das Urteil von Marco Rose vertraut werden, der ihm offensichtlich eine deutliche Leistungssteigerung zutraut.

Defensiv zeigt sich in diesen Tagen, dass das Vertrauen auf die jungen Beyer und Doucoure vielleicht etwas sehr optimistisch gewesen ist. Der Ausfall von drei Defensivspielern ist angesichts der starken Belastung und der besonderen Corona-Lage in diesem Spieljahr keine solch große Überraschung, als dass sie die Mannschaft in eine dermaßen große Notlage bringen dürfte. Aber auch hier gilt es, sich nicht zu sehr in die Opferrolle drängen zu lassen und das Verletzungspech als Alibi vorzubringen. Eine Defensivreihe mit Sommer, Ginter, Kramer, Wendt, Lainer und Zakaria verfügt über dermaßen viel Erfahrung und Qualität, dass sie auch uneingespielt besser auftreten kann als es in Freiburg der Fall war. Und sollte sich die Personallage bis Mittwoch nicht entspannen, ist ihnen zuzutrauen, sich in Madrid in ausreichendem Maße zu steigern, damit sich Mannschaft und Fans nach dieser Partie nicht als Opfer, sondern als Helden eines historischen Meilensteins der Vereinsgeschichte werden fühlen können.