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Auf dem Wunschzettel des Sohnes für Weihnachten stand neulich in leicht krakeliger Erstklässler-Schrift: „Coole Winterschuhe“. Nun erfreut es die Eltern natürlich, wenn der Nachwuchs noch solche Wünsche äußert und nicht den aktuellen Prospekt vom örtlichen Elektronikhändler abschreibt; das Problem wird indes die Bewertung am Heiligabend, wenn es um die Bedeutung des Adjektivs „cool“ gehen wird. Alle hier mitlesenden Eltern werden seufzend nicken, dass ein und das gleiche Adjektiv von den Kindern sehr unterschiedlich ausgelegt werden kann (Ähnliches gilt für „lecker“, „kalt“, „warm“ etc.). Ungefähr so verläuft es zurzeit für Borussia in dieser Saison.

In der Bundesliga drei Punkte vom CL-Platz entfernt, im DFB-Pokal eine sehr machbare Aufgabe mitsamt Perspektive aufs Achtelfinale und in der Champions League geht man in einer Gruppe, die schnell das recht neudeutsche Adjektiv „hammer“ verliehen bekommen hatte, tatsächlich als Gruppenerster in den letzten Spieltag: Die bisherige Saison könnte demnach tatsächlich als „cool“ umschrieben werden. Ist sie aber gefühlt nicht. Womit wir beim oben beschriebenen Problem des Heiligabends sind.

Der beschriebene Status quo hat nämlich ein paar säuerlich schmeckende, negative Begleiterscheinungen. Da ist das schon so oft zitierte Problem der verschenkten Punkte. Dass nicht jedes Spiel gewonnen werden kann: geschenkt. Die Häufigkeit, in der Borussia Spiele nach eigener Führung herschenkt, ist jedoch besorgniserregend. Dazu kommt eine im Spiel gegen den SC Freiburg beobachtete mentale wie körperliche Müdigkeit, die zumindest nicht in der einkalkulierten Niederlage endete, und eine defensive Anfälligkeit, die zurzeit eben nicht nur Top-Mannschaften ausnutzen.

Jetzt also ein richtiges Gruppenfinale bei Real Madrid. Ein Spiel, das das Potenzial hat, in die ereignisreiche Geschichte Gladbacher Europopokal-Abende einzugehen. Aus dem eingangs zitierten „cool“ kann tatsächlich durchaus ein „historisch“ werden, der erste Einzug in die K.o.-Runde der Champions League. Wollen wir an dieser Stelle mal für einen Moment ausblenden, welche DNA dieser Verein hat, wenn es um solche historischen Chancen geht, und blicken auf die Ausgangssituation der Gruppe, die dem Ganzen die Krone (sic!) aufsetzt.

Alle vier Mannschaften der Gruppe B können ins Achtelfinale einziehen. Es kann daher zu absurden Konstellationen kommen, dass z.B. Shakhtar Donezk (das sind die, die gegen Borussia zehn Gegentore in zwei Spielen bekommen haben) vor Borussia eine Runde weiterkommt. Weil die Ukrainer wiederum zwei Mal Real Madrid geschlagen haben, die wiederum beide Spiele gegen Inter Mailand nicht verloren haben, die wiederum … ach, lassen wir das.

Machen wir es also kurz und einfach: Borussia reichen drei Szenarien, um sicher weiterzukommen: eigener Sieg in Madrid, Remis in Madrid oder ein Remis im Parallelspiel zwischen Inter und Shakhtar.

(Anm. des Autors: Der SEITENWAHL-eigene Statistikbeauftrage Claus-Dieter Mayer möchte ergänzen: "Von 9 möglichen Konstellationen reichen 7, um weiterzukommen (Sieg Borussia, 3 mögliche Ausgänge in Mailand), (Unentschieden Borussia, 3 moegliche Ausgaenge in Mailand), Niederlage Borussia, Unentschieden in Mailand): 7/9 = 77.8%...unsere Wahrscheinlichkeit, weiterzukommen."

Anmerkung des Statistik-Beauftragten: "Diese im Scherz getätigte Milchmädchen-Rechnung stimmt natürlich nur, wenn man annimmt, dass Sieg/Unentschieden/Niederlage in beiden Spielen Wahrscheinlichkeit 1/3 besitzen. Ändert man dieses Annahme, so erhält man andere Wahrscheinlichkeiten. Im sogenannten Spoorakel-Modell z.B. ist die Wahrscheinlichkeit eines Sieges für Inter und Real 100% und die für ein Weiterkommen Borussias somit 0 %. So ist das halt mit den Wahrscheinlichkeiten.")

Vor diesem Hintergrund schmerzt Casemiros Tor in der dritten Minute der Nachspielzeit aus dem Hinspiel Ende Oktober umso mehr. Ohne diesen Treffer wäre Borussia nämlich schon jetzt durch.

Borussias Kader ist, das zeigt die gesamte Saison, einer der zwei Qualitäten. Wenn Spieler aus der Reihe Thuram, Plea, Stindl, Bensebaini, Hofmann oder Zakaria ausfallen, vermag es die zweite Garde nicht, diese Ausfälle in einem Maß zu kompensieren, dass es auf dem Niveau der Champions League (und ehrlicherweise auch oft in der Bundesliga) reicht. Trainer Marco Rose scheint in den vergangenen Wochen seine Top-Leute für die Champions League schonen zu wollen, in vielen vergangenen Bundesligaspielen saßen Thuram oder Plea zu Spielbeginn oft auf der Bank. Es ist davon auszugehen, dass in Madrid beide zusammen mit Kapitän Stindl die Offensive bilden und Embolo, Herrmann und Wolf von der Bank kommen werden.

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Denis Zakaria, in Top-Form einer der besten defensiven Mittelfeldspieler Europas, ist zurück im Kader und auf dem Platz, von der Dynamik und Dominanz der vergangenen Saison aber noch ein gutes Stück entfernt. Dennoch wird Rose den Schweizer Nationalspieler in der Defensive neben Christoph Kramer aufstellen, damit die beiden die Kreise von Kroos und Modric stören. Wo genau Zakaria im Abwehrverbund am Ende auflaufen wird, ist jedoch noch offen.

Denn der größere Schuh drückt in der Abwehrkette: Das Fehlen von Bensebaini und Elvedi in den vergangenen Pflichtspielen hat geschmerzt. Bensebaini wird auch am Mittwoch definitiv fehlen, bei Elvedi standen bei Redaktionsschluss noch Fragezeichen über dessen Einsatz. Da der erste logische Vertreter Tony Jantschke ebenfalls ausfällt, musste in Freiburg Christoph Kramer in die Innenverteidigung. Ein Experiment, das gegen Stürmer der Kategorie Karim Benzema dringend vermieden werden sollte. Gegebenenfalls agiert Zakaria in einer Dreierkette neben Ginter und entweder Wendt oder Lainer. Dieses Experiment sah gegen Inter jedoch auch nicht vielversprechend aus, zeigte der Weltklassestürmer Romelu Lukaku dem offensichtlich noch nicht ganz fitten Zakaria einige Male die Grenzen auf. Real wird offensiv zudem in einer 4-3-3-Formation auflaufen, da wäre eine Dreierkette – auch mit Blick auf die Ausgangslage – vielleicht etwas zu viel des Guten.

Darüber hinaus hat auch Torwart Yann Sommer in dieser Spielzeit etwas von seiner überragenden Klasse eingebüßt. Gegen Freiburg in vielen Momenten mit den ihm bekannten Reflexen, so leistete sich Sommer in einigen Spielen leider entscheidende Patzer. Dieses Vertrauen, dass Sommer auch mal die sogenannten unhaltbaren Bälle hält, ist verschwunden.

Die wichtigste Personalie beim Gegner Real Madrid heißt Sergio Ramos. Und da gab es aus Gladbacher Sicht schlechte Nachrichten aus der spanischen Hauptstadt, denn der Kapitän und Leistungsträger wird am Mittwoch im Kader stehen. Ohne Frage, ohne den erfahrenen Haudegen auf dem Platz ist Real eine andere Mannschaft, gerade in solchen entscheidenen Spielen wie dem am Mittwoch. Verzichten müssen die Königlichen mal wieder auf Eden Hazard, der wie der ehemaliger Frankfurter Luka Jovic verletzt ausfallen wird.

Für Real wäre ein Ausscheiden eine Katastrophe. Das Selbstverständnis des Rekordsiegers heißt jedes Jahr Titelgewinn, nichts weniger und zwar unabhängig von den Gruppengegnern oder ob Spieler wie Cristiano Ronaldo im Klub spielen oder nicht. Daher muss niemand im Gladbacher Kader darauf hoffen, dass Real im Kopf bereits das ebenso wichtige Stadtderby drei Tage später gegen Atlético im Kopf hat, in dem auch die spanische Meisterschaft eine kleine Vorentscheidung erfahren könnte. Verliert Real beide Spiele, wird es für Trainer Zinedine Zidane sicherlich eng.

Der Druck am Mittwochabend liegt daher auf Seiten der Gastgeber, Gladbach wird in jedem Fall europäisch überwintern, Real kann sogar noch Gruppenletzter werden. Aber Real Madrid wäre nicht Real Madrid, wenn sie diesen Druck nicht aushielten. Casemiro sagte auf der Pressekonferenz vor dem Spiel: „Dieser Klub lehrt dich, dass du Finale nicht spielst, sondern dass du sie gewinnst.“

Es wird für Borussia ein Balanceakt zwischen selbstbewusstem Auftreten als Gruppenerster und dem Gefühl, den Gegner im Hinspiel an den Rand einer Niederlage gebracht zu haben, und dem zu erwartenden Druck einer Mannschaft, die immer noch gespickt ist mit sogenannten „Unterschiedspielern“, also solchen, die Partien aufgrund ihrer Klasse und ihrer Erfahrung im Alleingang entscheiden können.

Dass die Partie im Stadion Alfredo Di Stéfano, einem Nebenplatz des berühmten Santiago Bernabéu, und natürlich ohne Zuschauer ausgetragen wird, sollte jedoch im besten Fall ein Vorteil für Borussia sein. Ein solches Spiel vor 75.000 Zuschauern im ausverkauften Bernabéu hätte sicher eine andere Wucht.

Ohne Frage: Dieses Spiel ist eines der wichtigsten der jüngeren Gladbacher Vereinsgeschichte. Dass Borussia am letzten Spieltag in dieser Gruppe noch alle Karten selbst in der Hand hat, zum ersten Mal das Achtelfinale der Champions League zu erreichen, ist bereits eine großartige Leistung. Als Gruppenerster könnte mit viel Glück sogar ein machbarer Gegner im Achtelfinale warten, sofern das auf diesem Niveau überhaupt eine statthafte Beschreibung ist. Freuen wir uns also auf die Partie und hoffen, dass der Fußballgott zur Ausnahme mal ein Gladbacher Trikot trägt.

Das wäre in der Tat und ohne Diskussion „cool“.

Die Tipps der SEITENWAHL-Redaktion:

Mike Lukanz: Borussia erkämpft sich mit Leidenschaft und einer großartigen Abwehrschlacht ein 0:0 und zieht ins Achtelfinale ein. Es wird das letzte Mal, dass ich an einen romantischen Verlauf der Saison glaube.

Uwe Pirl: Mailand oder Madrid? Egal, Hauptsache der letzte nötige Punkt wird geholt. Wird er geholt? Ich habe erhebliche Zweifel, traue aber Borussia andererseits ziemlich viel zu. Hoffen wir also, dass Madrid der Nebenplatz ohne Zuschauer nicht schmeckt, dass Ramos noch nicht ganz der Alte ist und dass der holländische Schiedsrichter beweist, dass er nicht van der Kroft heißt. Dann gibts ein 2:2. Unter dem macht es Borussia nicht.

Christian Spoo: Eine im Grunde genommen überraschend gelaufene Gruppenphase nimmt für Borussia kein überraschendes Ende. Die 0:2-Niederlage in Madrid bedeutet das Überwintern in der Europa League.

Michael Heinen: Die gute Nachricht: Es gibt kein Tor in der Nachspielzeit. Leider macht Real aber vorher bereits 3 und Borussia nur 1.

Thomas Häcki: Die Partie in Madrid wird eine Lehrstunde für Borussias Defensive, die letztlich beim 1:4 ihre Grenzen aufgezeigt bekommt.

Claus-Dieter Mayer: Was Leonardus van der Kroft 1976 noch verhindern konnte, passiert nun vor den Augen seines Landsmannes Björn Kuipers: Borussia gewinnt 3:1 bei Real Madrid.