wolfsburg neu

Sommer 2019. Mensch, waren das noch Zeiten! Man konnte ungeahndet so verwegenen Risikohandlungen wie in den Urlaub fahren, Geburtstag feiern oder gar Freunde und Verwandte zu umarmen nachgehen. Ja, sollte man denn zu solch einer illustren Runde eingeladen worden sein, wäre auch eine Feier in einem Essener Lokal in Anwesenheit leicht bekleideter Damen nicht weiter verwerflich gewesen. Erstaunlicherweise fand diese außergewöhnliche Freizügigkeit damals kaum Erwähnung in den Medien. Stattdessen beschäftigten Fussball-affine Portale (wie z.B. Seitenwahl, siehe https://www.seitenwahl.de/index.php/78-news/newsartikel/6921-die-neue-art-des-trainerwechsels) sich mit der Vielzahl von Trainerwechseln in jenem Sommer. Während man die Hoffnungen in Ante Covic und David Wagner in Berlin und Gelsenkirchen schon wieder vergessen hat, treffen am Sonntag in Wolfsburg zwei damals in dieses muntere Wechselspiel involvierte Trainer aufeinander, zwischen denen es auch noch andere Parallelen gibt. Beide ersetzten Trainer, die mit dem Erreichen der Europa-League relativ erfolgreich gewesen waren, beide kamen aus der österreichischen ersten Liga und ihre neuen Vereine hatte noch dazu in der Abschlusstabelle 2019 nur ein einziges Tor getrennt. Pikanterweise hatte man in Wolfsburg eigentlich auch zunächst Marco Rose verpflichten wollen, dann aber gegen den „wahren“ VFL den Kürzeren gezogen. Die Debütsaison beider Trainer bestätigte zunächst, dass Glasner berechtigterweise nur „zweite Wahl“ in Niedersachsen gewesen war. Während Marco Rose die Borussia wochenlang an der Tabellenspitze der Liga hielt, krebste das VW-Team im Liga-Mittelfeld herum und als man in Gladbach zu Saisonende den Champions-League Platz sicherstellte, verpassten die Wolfsburger am letzten Spieltag noch die erneute direkte Europa-League Qualifikation. 

In dieser Spielzeit schien das zunächst so weiterzugehen. Gladbach ballerte in der Champions-League Donezk weg, lieferte sich aufregende Duelle auf Augenhöhe mit Inter und Real; Wolfsburg scheiterte an AEK Athen in den EL-Playoffs. In der Liga konnte das Glasner-Team zwar lange ungeschlagen blieben, aber der Fußball war unansehnlich und Anfang November berichteten diverse Medien vom eigentlich schon beschlossenen Aus des Österreichers, der sich angeblich mit Sportdirektor Jörg Schmadtke überworfen hätte. Das Online-Portal Sportwetten24 brachte sogar die Namen Weinzierl (!) und Doll (!!!) in Verbindung mit dem scheinbar frei werdenden Posten … Traumvorstellungen für jeden, der es schlecht mit dem VFL Wolfsburg meint, und welcher Mensch mit einem bisschen Anstand tut das nicht? 

Das alles ist nur 3 Monate her, aber wie sich die Dinge geändert haben. In Gladbach wird der vor kurzem noch gefeierte Marco Rose auf einmal hart kritisiert. Seine durch fehlende Dementi implizit bestätigten Verhandlungen mit Borussia Dortmund stoßen schon seit Wochen vielen unangenehm auf, aber der sportlich erfolgreiche Januar mit Siegen über Bayern und Dortmund und dem Einzug ins Pokalviertelfinale konnte zunächst noch die aufkommende negative Stimmung überdecken. Das verlorene Derby gegen Köln mit einer B-Elf als Startaufstellung (und eine solche hat man in diesem Jahr immer, wenn Wolf, Hermann oder Wendt beginnen dürfen) hingegen hat die Gemüter in Wallung gebracht und zum ersten Mal verspürt der ehemalige Salzburg-Coach in Mönchengladbach Gegenwind. 

Ganz anders die Lage in Wolfsburg: nach 4 Gegentorlosen Liga-Siegen in Folge (dazu noch ein 1:0 im Pokal),  steht man auf einmal auf einem  hervorragenden dritten Platz. Glasner-Fussball mag noch immer nichts für Feinschmecker sein, aber über anderthalb Jahre hinweg hat der ehemalige Linz-Trainer das fortgeführt, was Bruno Labbadia begonnen hat und aus der einst wahllos zusammengestellten Sammlung talentierter Einzelspieler ein taktisch äußerst diszipliniertes Kollektiv geformt. Dass man ligaweit nur den zehnt-besten Sturm aber die zweitbeste Abwehr besitzt, belegt, dass die Arbeit gegen den Ball Vorrang in Glasners Denken hat, aber mit einem Wout Weghorst im Sturm und Spielern wie Schlager oder dem ewigen Maxi Arnold im Mittelfeld hat Wolfsburg auch offensiv Optionen. Die Unterschiede zur Borussia werden vor allem dann deutlich, wenn man sich anschaut was in Spielen nach eigener Führung passierte: In 13 solcher Partien musste die Wolfsburger nur noch 7 Punkte hergeben, die Borussia hingegen verlor noch 18 Punkte in 16 Spielen, in denen man vorn lag. 

Ist Oliver Glasner also im Nachhinein der wahre Glückstreffer unter all den im Sommer 2019 neu verpflichteten Trainern und wurde Marco Rose eher überschätzt? Bei der Beantwortung dieser Frage, spielt ein Datum eine zentrale Rolle: der erste Oktober 2020, als Karim Ansafarid in der 4. Minute der Nachspielzeit Wolfsburg im Playoff aus der Europa-League kegelte. Was damals nach mühseligen Qualifikationsrunden wie ein gewaltiger Rückschlag wirkte, hat sich vermutlich als Segen herausgestellt. Seitdem kann sich das Glasner-Team in Ruhe auf die Liga konzentrieren und hat seinen Stil perfektioniert. Dementsprechend spielt Wolfsburg seit Wochen mit nahezu unveränderter Formation, ein Luxus, von dem Marco Rose nur träumen kann. Schon vor einigen Monaten postete der Seitenwahl Twitter Account, dass Borussia zwar auf 3 Hochzeiten tanze, aber nur einen Anzug habe. Das entschuldigt jetzt nicht wirklich, im Derby gegen Köln im Schlafanzug angetreten zu sein, aber es zeigt das grundsätzliche Gladbacher-Problem an, dass unter Fans auch das „Wolf-Herrmann-Dilemma“ genannt wird. Es geht dabei gar nicht um die beiden Spieler persönlich, sondern einfach um die Tatsache, dass die Qualität im Kader hinter den Top 13 (oder so) rapide abfällt, was man vor Saisonbeginn nicht erwartet hätte. Patrick Herrmann war über viele Jahre immer wieder eine plausible Alternative für die Startelf, scheint aber seit Monaten jenseits des Niveaus der Vorsaison. Hannes Wolf hat – wenn man Marco Roses Urteil glauben darf – alle Voraussetzungen für einen guten Bundesligaspieler, konnte die bislang aber höchstens andeuten. Man könnte an dieser Stelle noch andere Personalien durchgehen (Embolo formschwach, Zakaria nach langer Verletzung noch nicht wieder auf altem Niveau, Wendt über seinen Zenit, Lazaro verletzt, Benes ausgeliehen), aber der wesentliche Punkt bleibt, dass jegliche Rotation weg von der ersten Elf bei Borussia zurzeit mit unweigerlichem Qualitätsverlust einhergeht.

Damit das Bundesliga-Abschneiden nicht noch weiter unter diesem Umstand leidet, wird am Sonntagabend höchstvermutlich Borussias A-Elf in Wolfsburg antreten, aber selbst dann wird es ein schwieriges Spiel. Die Ausganglage ist klar: Um noch Chancen auf einen CL-Platz zu wahren, muss die Borussia eigentlich gewinnen. Dass die Bilanz in Wolfsburg katastrophal ist, muss man Seitenwahl-Lesern wohl kaum mitteilen. Bei einer Niederlage droht ein Abrutschen bis auf Platz 9 und die Zeiten als man es noch versuchen konnte, „Einstelligkeit“ in Mönchengladbach als Erfolg zu verkaufen, sind vorbei.

Seitenwahl-Tipps: 

Claus-Dieter Mayer: Die Leistung stimmt diesmal, das Ergebnis nicht so ganz. Zweimal gibt die Borussia die Führung wieder her und reist am Ende mit einem unbefriedigendem 2:2 nach Hause. 

Michael Heinen: Ich will, dass Borussia in Wolfsburg gewinnt. Leider will der Fußballgott meist, dass Borussia dort verliert. Als Kompromiss einigen wir uns auf ein 1:1. 

Christian Spoo: Nichts zu holen in Wolfsburg. Borussia zeigt sich von Derbyschlappe und Zukunftsdebatte schwer beeindruckt und ist mit der 0:2-Niederlage noch gut bedient. 

Christian Grünewald: Borussia ist diesmal Außenseiter gegen abgezockte Wolfsburger. Nur mit einer gewaltigen Steigerung zur Vorwoche nimmt man etwas Zählbares aus der Autostadt mit. (Anmerkung der Redaktion: CG mag keine Ergebnistipps) 

Thomas Häcki: Nach dem Sturm der Entrüstung wird die Borussia um Wiedergutmachung bemüht sein, was im Falle eines Spiels in der Autostadt ein 1:1 bedeutet. Andernfalls verabschiedet man sich vorerst von der CL. 

Mike Lukanz: Wolfsburg ist zurzeit eine Nummer zu stark für Borussia und gewinnt daher 3:1. Aber ist nicht schlimm, denn wir wissen ja, wo wir herkommen.