Ein 2:2 bei einem Abstiegskandidaten ist in der Regel nichts, aus dem sich eine ambitioniert in die Saison gestartete Mannschaft wie Borussia irgendwelche positiven Effekte erhoffen kann. Da man aber - Nachspielzeit eingerechnet - rund 85 Minuten in Unterzahl spielte und dennoch ein Sieg durchaus möglich war, scheint man doch ein paar Sachen richtig gemacht zu haben. Geholfen hat dabei vielleicht auch, dass nahezu alle kritischen Entscheidungen an diesem Nachmittag zu Ungunsten der Fohlen ausfielen.

Zwar begannen die Fohlen die Partie recht schwungvoll, doch unmittelbar nach Sommers Platzverweis (mehr dazu später) sah es erstmal so aus, als wäre der Nachmittag schnell gelaufen. Borussia wirkte sichtlich angeschlagen und hätte höher als nur 0:1 zurückliegen können. Doch mit dem zu diesem Zeitpunkt überraschenden 1:1 waren plötzlich wieder jene Bereitschaft und Effektivität im Spiel nach vorn zu sehen, die Borussia in der vergangenen Saison ausgezeichnet hatte, zuletzt aber erst in der zweiten Hälfte gegen Freiburg wieder erkennbar war. Ketzerisch könnte man fragen: Warum braucht es erst Nackenschläge wie eine Katastrophen-Halbzeit gegen die Breisgauer und eine Platzverweis des Torwarts, um die Tugenden aufzubringen, für die Borussia unter ihrem Noch-Trainer vermeintlich steht?

Doch bleiben wir beim Positiven an diesem Samstag: Alassane Pléa hat endlich wieder getroffen und zeigte sich auch sonst formverbessert. Denis Zakaria kommt immer besser in Schwung und funktioniert auch in der Abwehr, wo er zunächst als Quasi-Libero im Zentrum einer Dreierkette, dann nach dem Platzverweis die linke Innenverteidigerposition übernahm. Die Faustregel, dass eine Rückkehr zu Bestform genauso so viel Zeit in Anspruch nimmt wie die vorausgegangene Verletzung, scheint bei ihm mit rund sieben Monaten ziemlich genau zuzutreffen. Es wäre für den Saisonendspurt ein großer Faustpfand, wenn der Schweizer in seinen vermutlich letzten Partien für Borussia noch einmal die wichtige Rolle einnehmen könnte, die ihn international so begehrt gemacht hat. Eine Art Lebensversicherung ist derzeit Marcus Thuram, dessen bloße Anwesenheit im Strafraum für blanke Panik beim Gegner zu sorgen scheint – Stindls Treffer zum 2:1 war der achte Strafstoß, den der Franzose in dieser Saison herausholte – und Mitte der 2. Hälfte hätte es sogar einen neunten geben können.


50/50-Pfiffe - gegen die Fohlen

Womit wir beim Schiedsrichter, dessen Assistenten und – natürlich – auch dem Videobeweis wären. Der Hamburger Patrick Ittrich leitete nach mehreren Monaten Pause in Berlin wieder ein Bundesligaspiel und hatte einige knifflige Entscheidungen zu treffen.

Szene 1 – Platzverweis Sommer: Cordoba hat nach einem langen Ball halblinks zu viel Platz, Sommer entscheidet sich fürs Herauslaufen und kommt mit seinem Tackling zu spät, Cordoba kommt zu Fall. Ittrich entscheidet sofort auf Notbremse und zeigt dem Gladbacher Keeper die Rote Karte.

So weit so klar? Ohne die Möglichkeit, Szenen zu überprüfen, müsste man diese Entscheidung so akzeptieren. Aber es bleiben Fragen: Hat Sommer Cordoba wirklich getroffen? Ist er wirklich letzter Mann, obwohl Zakaria im Vollsprint auf nahezu gleicher Höhe ist? Vereitelt er wirklich eine klare Torchance, obwohl sich Cordoba den Ball weit vorlegte und so weit außen ist, dass ihn Zakaria noch am Abschluss hindern könnte? Eine tiefere Überprüfung scheint es jedenfalls nicht gegeben zu haben, den ein hier eigentlich naheliegendes On-Field-Review des Schiedsrichters blieb aus.

Szene 2 – Nur Gelb für Zeefuik: Kurz nach dem Platzverweis springt der Herthaner Zeefuik mit ausgestrecktem Ellenbogen in Bensebaini hinein und trifft ihn voll im Gesicht. Ittrich verwarnt ihn.

Wir haben in den vergangenen Jahren viel über Regelkunde lernen MÜSSEN. Dazu gehört auch – sinngemäß – ein Platzverweis aufgrund von grobem Foulspiel mit absichtlicher Inkaufnahme einer Verletzung des Gegners – weshalb diese Szene mindestens grenzwertig ist. Denn in der Wiederholung wird deutlich, wie der Herthaner mit Schwung in den Algerier hinspringt und den Einschlag im Gegensatz zu Bensebaini früh kommen sieht. Eine hässliche Szene, die in Anbetracht der aktuelle Diskussion um die Langzeitfolgen von Schädelverletzungen die guten Vorsätze des DFB ad absurdum führt. Zudem sei angemerkt, dass Zeefuik schon zu Beginn des Spiels mit ähnlicher Härte ausgeholt hatte. Eine intensivere Kontrolle durch den VAR scheint es jedoch nicht gegeben zu haben.

Szene 3 – Kein Abseits beim 2:2 für Hertha: Ein Distanzschuss wird von Sippel nach außen abgewehrt, Cunha flankt von dort in die Mitte, wo Cordoba einschieben kann. Der Assistent entscheidet auf Abseits, das nach langer Überprüfung durch den VAR aufgehoben wird. Eine aufschlussreiche Beweislinie wird weder während des Spiels, noch in einer der folgenden Zusammenfassungen am Samstag auf den Sendern gezeigt.

Dieses Tor zeigt, wie sehr die zahlreichen Peinlichkeiten und Fehler der letzten Jahre die Glaubwürdigkeit des Videobeweises untergraben haben. Auch wenn das Auge und die Kameraperspektive spontan für Abseits sprechen und mehrere selbstgezogenen Linien der Hobby-Detektive im Netz diesen Eindruck erhärten, sollte man meinen – nein, man sollte WISSEN – dass in Köln die nötige Technik vorliegt, um eine gleiche Höhe korrekt festzustellen. Dem Autor geht es da leider wie vielen anderen – wenn der Beweis fehlt, fällt das Glauben nach den letzten Erfahrungen schwer. Noch dazu, weil hier keine Entscheidung des Schirigespanns bestätigt, sondern eine Tatsachenentscheidung des Assistenten überstimmt wurde.

Szene 4 – Kein Elfmeter für Thuram: Eine Hereingabe von der rechten Seite durch Plea kann von Thuram nicht zum direkten Abschluss verarbeitet werden. Bei seinem Versuch, den Ball mit dem Rücken zum Tor zu kontrollieren, rutscht er mit dem Standbein weg, offensichtlich gehalten vom Herthaner Klünter. Ittrich lässt weiterlaufen, eine tiefere Überprüfung durch den VAR bleibt aus.

Hier ist es vor allem eine Frage der Wahrnehmung. Tritt nicht Thuram eher Klünter auf den Arm, als das dieser bewusst nach dessen Bein greift? Das mag der ein oder andere einwenden. Aus Sicht des Autors spielt es hier aber nicht die entscheidende Rolle. Fakt ist, dass Klünter das Bein im Anschluss reflexartig festhält und Thuram mitzerrt, sodass dieser nicht den Halt finden kann, um den Ball zu erreichen. Dass dies nicht mindestens durch ein On-Field-Review kontrolliert wurde, war für Borussia in dieser Phase des Spiels nicht nur besonders ärgerlich, sondern im Anbetracht der vorhandenen Technik auch komplett unverständlich.


Das Spiel ist damit erzählt - Borussia musste am Ende mehrfach Durchwechseln und noch etwas Zittern, weil man schlicht nichts mehr zusetzen konnte. Der Punkt geht in Ordnung ist durch sein Zustandekommen eher erfreulich. Welchen Wert er im Kampf um die internationalen Plätze hat, wird sich noch zeigen. Zu hoffen ist, dass sich der wie immer mehr als solide Tobi Sippel bei der letzten Aktion des Spiels nicht schwerer verletzt hat und kommende Woche für den gesperrten Sommer auflaufen kann.


Das VAR-Paradox


Aber wurde Borussia nun „verpfiffen“? Aus Sicht des Fans natürlich ein klares „Ja!“. Gefühlt jede kritische Szene wurde letztlich für den Gegner entschieden, dazu fiel auch die Zweikampfbewertung tendenziell zu Ungunsten der Fohlen aus. Aber natürlich wird man in jeder Szene mindestens einen, wahrscheinlich aber besonders beim DFB sehr viele Regelkundler finden, die schlagfertige Argumente vorbringen können, warum jeder Pfiff letztlich vertretbar oder zumindest "50/50" war. Es ist die unglückliche Häufung zum Nachteil einer – unserer –  Mannschaft, die bei den Fohlenfans für Frust sorgt. Hier gar Absicht zu unterstellen, wäre aber selbst für den berüchtigten DFB wohl ein bisschen zu viel Aluhut.

Es ist vielmehr das Dilemma, in das sich der Fußball weniger mit der Einführung, als vielmehr mit der mangelhaften, intransparenten und inkonsistenten Umsetzung des Videobeweises gebracht hat, dass an diesem Samstag wieder viel zu deutlich wurde. Da ist ein Instrument, das viele offensichtliche Fehler beseitigen kann – und das im Übrigen auch mehrheitlich tut, statistisch ist der VAR nach wie vor ein großer Erfolg. Doch seine Akzeptanz droht zunehmend an den Erwartungen zu scheitern, die das Tool sowohl bei Zuschauern, als auch nicht zuletzt bei den Anwendern selbst geweckt hat. Die Eingriffsschwelle, ursprünglich mal als extrem hoch angelegt, wurde allein deswegen abgesenkt, um die hohen Kosten für Anschaffung, Betrieb und Instandhaltung rechtfertigen zu können. So hätte nach ursprünglichen Ansatz der VAR im Spiel gestern vielleicht an keiner Stelle eingegriffen oder auch nur überprüft – und man hätte es als Klub und Fans wie früher verärgert schlucken müssen. Doch man hat nun mal so etwas wie das On-Field-Review geschaffen, bei dem auch kritische Szenen, nicht nur glasklare bewertet werden können und sogar sollen, wenn die Wahrnehmung des Schiris eine andere war (was auch immer das konkret bedeutet...). Und schließlich sieht der Zuschauer an einem Bundesliga-Wochenende eben zahlreiche andere Eingriffe, denen weit weniger deutliche oder wahrnehmbare Szenen als die in Berlin zugrunde liegen (siehe Bibiana Steinhaus bei Borussias Spiel in Stuttgart).

In seiner aktuellen Form hat der Einsatz des VAR somit den Streit um Benachteiligung durch Fehlentscheidungen nicht beseitigt, sondern nur verlagert: In eine Welt der komplizierten Regelkunde, die der Zuschauer weder verstehen muss, noch sollte. In die Frage, ob die Person am Bildschirm in Köln kompetent, aufmerksam und technisch genug ausgestattet ist, um Szenen korrekt einzuschätzen. Und um Medienpartner wie Sky, die diese Farce von DFB und UEFA gern mitspielen und Probleme verschweigen, solange es nicht gerade die heiß umworbene Hauptzielgruppe betrifft (siehe der falsche Einwurf vor dem 1:1 von Union bei den Bayern).

Damit kein missverständlicher Eindruck entsteht: Der VAR wird bleiben und das ist insgesamt auch gut so. Denn er eliminiert tatsächlich deutlich mehr Fehler als er Diskussionen schafft. Funktioniert der Videobeweis aber nicht, dann ist das öffentliche Verständnis dafür, dass eine vom Menschen bediente Technik in einem zunehmend schnelleren und komplexeren Mannschaftsport keine 100%-Quote erreichen kann, umso geringer. Das ist per se keine leichte Voraussetzung - aber es gibt Lösungsansätze. Dafür aber muss der VAR-Einsatz zwingend einheitlicher, zurückhaltender und vor allem transparenter werden, um nicht nur ein reines Statistikwunder zu bleiben, sondern zu einem von Fußball-Szene und Zuschauern gleichermaßen respektierten und geschätzten Teil des Spiels zu werden.