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Unser Jahresrückblick ist diesmal zwangsläufig eine Fehleranalyse. Zwischen diesem zweiten Teil und dem gestern veröffentlichten ersten liegen vier Corona-Infektionen im Team. Ein Abschluss des Jahres, der sich nahtlos einfügt in zwölf Monate, in denen - trotz einiger weniger bemerkenswerter Highlights - ziemlich viel daneben ging. Hoffen wir, dass die infizierten Spieler einen milden Verlauf haben und der Rückrundenauftakt mit möglichst voller Kapelle stattfinden kann. SEITENWAHL wünscht einen guten Rutsch und hofft, wie vermutlich der Großteil der hier Lesenden, auf ein erfolgreicheres und besseres 2022.

 

Michael Heinen

Borussia hatte in den vergangenen zehn Jahren die erfolgreichste Periode seit den 1980ern. Noch vor knapp einem Jahr behauptete sie sich in der Champions League gegen Inter Mailand und Real Madrid. Doch die größten Fehler werden gewöhnlich in erfolgreichen Zeiten gemacht. Schon in den letzten Jahren gab es Anzeichen, die auf einen (schleichenden) Niedergang hindeuteten. Sei es z. B. das unerklärliche 0:4 gegen Wolfsberg, die Vielzahl an verlorenen Punkten nach Führung oder die Skandale um Breel Embolo und Marcus Thuram. Die heile Welt in der Borussen-Familie ist schon seit längerem nicht mehr vollständig intakt. Die hohe individuelle Qualität konnte dies lange Zeit überdecken. Selbst in dieser Hinrunde schien es bis zum Derby noch halbwegs anständig zu laufen. Von den vorigen neun Partien hatte Borussia nur zwei verloren und durfte sich Hoffnungen machen, auch in dieser Saison wieder um die europäischen Plätze mitzuspielen. Dies wäre aber erneut nicht viel mehr als Flickschusterei gewesen, der die offensichtlichen Probleme im Kader überdeckt hätte. In den letzten vier Partien des Jahres brachen sich die Defizite aber endgültig Bahn und lösten eine Negativspirale aus, die jetzt nur noch schwer aufzuhalten sein wird.

Wenn etwas dermaßen schief läuft, dann muss sich jeder im Verein hinterfragen. Es gibt nicht nur einen bestimmten Grund oder eine bestimmte Person, an der die Krise festgemacht werden kann. Es ist eher eine Verkettung vieler Fehler, die in den vergangenen Jahren auf allen Ebenen im Verein begangen worden sind. Der langjährige Erfolg wurde von vielen offensichtlich als zu selbstverständlich angesehen. Übersehen wurde, dass dieser das Produkt harter und kontinuierlicher Arbeit war, die stetig aufrechterhalten werden muss, um den Bestand zu sichern.

Es müssen nicht einmal die oftmals überbewerteten (Lauf-)Statistiken bemüht werden, um zu erkennen, dass nicht jeder Spieler in dieser Hinrunde sein Optimum abgerufen hat. Auch der Trainer bzw. die Trainer der letzten Jahre haben ihren Anteil. Während die Vergangenheit nicht mehr geändert werden kann, bietet sich Adi Hütter jetzt die Chance, die Mannschaft und den Verein aus dieser schwierigen Krise zu manövrieren. 

Max Eberls Anteil an den Erfolgen des vergangenen Jahrzehnts kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Sein Abgang wäre für den Verein ein weit größerer Verlust als es jeder Trainer oder Möchtegern-Führungsspieler je sein könnte. Aber auch Eberl muss sich in diesen Zeiten kritisch hinterfragen. Die Situation war aufgrund der Corona-Pandemie nicht einfach. Zudem engten die fest eingeplanten Transfers von Zakaria und Thuram vor der Saison den finanziellen Spielraum für eine dringend benötigte Kaderveränderung deutlich ein. Dennoch hätte hier offensichtlich etwas passieren müssen, da die Zusammenstellung des Spielermaterials mit suboptimal noch höchst wohlwollend umschrieben ist.

Manchmal sind es einzelne Personen, die auf dem Spielfeld gar nicht so im Vordergrund stehen, die für die Kaderhygiene eine weit größere Rolle spielen. Der Name von Ibo Traore fällt hier oft, der mit seiner stets fröhlichen Art ein positives Bindeglied speziell bei den französischsprachigen Spielern gewesen sein soll. Mit Oscar Wendt verließ ein weiterer langjähriger Borusse den Verein. Eberl entschloss sich vor der Saison für eine Verjüngung und setzte vornehmlich auf jüngere Neuzugänge. Möglich, dass dadurch ein erfahrener Recke fehlte, um den Kader in vernünftige Bahnen zu halten. Charakterköpfe wie Martin Stranzl oder Tomas Galasek wachsen nur leider nicht an Bäumen und sind gerade im Winter schwer aufzutreiben.

Eberl und sein Team werden es trotzdem versuchen müssen, in den kommenden Wochen mindestens ein bis zwei neue Akteure aufzutreiben, die den Verein schon in der Rückrunde zu stabilisieren helfen können. Wer immer noch glaubt, Borussia sei zu stark besetzt um abzusteigen, der hat aus dieser Hinrunde nichts gelernt. Borussia steht in der Tabelle genau dort, wo sie nach den ersten 17 Spielen hingehört. Und sie muss aufpassen, dass sie der Negativstrudel nicht sogar noch weiter nach unten zieht. 

Wichtig wird sein, dass sich die Mannschaft aus dieser Misere herauskämpft und sich irgendwie ins gesicherte Mittelfeld rettet. Und noch wichtiger ist es, dass wirklich jeder im Verein selbstkritisch die Lage analysiert und seine Lehren daraus zieht. Ein Verein wie Borussia Mönchengladbach, der in den vergangenen Jahren fast immer überperformt hat, kann dieses hohe Niveau auf Dauer nur halten, wenn er schlauer, schneller und gewitzter ist als die finanziell meist besser aufgestellte Konkurrenz. Der Erfolg hat viele Akteure im Verein dagegen träger, langsamer und zufriedener gemacht. Dies zu erkennen und abzustellen wäre der erste Weg zur Besserung.

 
 
“The history book on the shelf is always repeating itself…” erkannten bereits 1974 die Herren Ulvaeus und Andersson und im Jahre 2021 bekamen auch Gladbach-Fans immer mehr den Eindruck, dass die Borussen-Chronik gerade auf bereits vergangene Handlungsstränge zurückgreift. Ziemlich genau ein Vierteljahrhundert ist es her, dass es schon einmal eine Borussia gab, die eine erfolgreiche Periode hinter sich hatte, gespickt war von Spielern, die auch heute noch Kultstatus besitzen und für weitere Erfolge prädestiniert schien. Bei einem grandiosen 3:2 Sieg in Arsenals heiligem Highbury oder einer 5:1 Demontage des amtierenden deutschen Meisters und kommenden Championsleague-Siegers zeigte man auch das riesige Potenzial, dass im Team steckte, aber im Bundesliga-Alltag blieb man vor allem bei 9 torlosen Auswärtsspielen weit hinter den Möglichkeiten her. Im Jahr 2021 sehen wir eine Borussia, die in 6 Heimspielen gegen Bayern und Dortmund viermal gewann und 14:6 Tore erzielte, aber in der Tabelle zum Jahreswechsel trotzdem nur 2 Punkte vor dem Relegationsplatz liegt.
 
Wie vor 25 Jahren sind die Gründe für den Abfall diffus, aber mannschaftstrukturelle Probleme und eine gewisse Selbstzufriedenheit im Umfeld gehörten beide Male dazu. Dieser Tage das Problem aber nicht die eine dominierende Person (Effenberg) im Team, sondern vielmehr ist der große Wunsch vieler Fans, man möge doch bitte endlich mal einen guten Kader (der Saison 19/20) zusammenhalten, Stück für Stück zum Albtraum mutiert. Nicht nur fehlen die zusätzlichen Impulse, die ein Schlüsseltransfer hätte bringen können, sondern man stellt auch fest, dass die Klasse von Spielern einem nicht viel nützt, wenn diese in Gedanken schon mit dem Verein abgeschlossen haben und sich nur wegen des Corona-bedingt trägen Transfermarkts noch in Mönchengladbach befinden. So vegetiert eine sowieso schon nicht perfekte Mannschaftshierarchie so vor sich hin und nur bei den Spielen gegen die Großen scheint man sich gelegentlich noch mal so richtig zusammenreißen zu können, immerhin gucken da ja vielleicht auch die zukünftigen Arbeitgeber mal zu. Das Umfeld scheint es zum Teil noch nicht wahrhaben zu wollen, dass ein sehr gutes Jahrzehnt für den VFL wohl möglich nun zu Ende ist und neigt in der Außendarstellung auf dem feinen Grat zwischen „Keine Panik“-Beruhigung und Pfeifen im Wald immer mehr zu letzterem. Leidtun kann einem bei all dem der Trainer, der ja nach schwierigem Start mit einigen Umstellungen (vor allem Koné statt Neuhaus) es durchaus geschafft hatte eine gewisse Stabilität zu erzeugen, aber dem charakterlosen Einbruch mit 9 Gegentoren in weniger als einer Stunde Bundesligaspielzeit gegen Köln und Freiburg auch hilflos gegenüberstand. Das Drehen an den wichtigen taktischen Stellschrauben ist Hütter auf jeden Fall genauso zuzutrauen wie einem möglichen Nachfolger, aber das allein wird diesmal (im Gegensatz zu 2011) nicht reichen, sondern wie in den Jahren 1996-99 scheint es, dass man bei aller Genugtuung über den „richtigen Weg“ das Abbiegen in die Sackgasse gar nicht bemerkt hat. 

Natürlich ist/war nicht alles schlecht in diesem Jahr: das 5:0 gegen die Bayern kann uns keiner mehr nehmen, das ist jetzt Teil der Borussia-Geschichte. Auch gibt es mit Koné, Scally oder Netz einige junge Spieler, die andeuten konnten, welche Rolle sie für den VFL in Zukunft spielen könnten. Bleibt nur zu hoffen, dass wir sie nicht irgendwann mal so erinnern wie wir das jetzt mit Deisler, Enke und Ketelaer tun…Hoffnungen, die zuletzt starben.
 
 
Thomas Häcki

Und was erwartest du von der neuen Saison?“. „Na ja, schlimmer kann es ja nicht mehr kommen!“. Diese Worte gingen mir 1998 über die Lippen und ich sollte mich bitter täuschen. Es kam schlimmer und die Borussia stieg am Ende als Tabellenletzter zum ersten Mal ab. Vergleiche hinken bekannterweise und nein, ganz so schwarz sollte man die aktuelle Situation nun auch nicht malen. Allerdings stechen gewisse Parallelen deutlich ins Auge. Damals wie heute befand sich die Mannschaft in einem Umbruch. Die Helden der vergangenen Tage waren im Herbst ihrer Karriere angekommen und hatten den Zenit teils deutlich überschritten. Junge Spieler wie Enke, Deisler oder Ketelaer standen hingegen erst am Anfang ihrer Karriere. Und für den Rest war die Borussia eben ein Arbeitgeber wie jeder andere oder schlicht und ergreifend zu klein geworden.

Hier enden auch schon die Parallelen, denn die Borussia von heute ist allenfalls vom Namen her mit dem damaligen Club vergleichbar. Der Verein verfügt mittlerweile über eine erstklassige Infrastruktur, ist wirtschaftlich gesund und hat ein professionelles Management aufgebaut. Wenn man aber die Einstellung einzelner Spieler betrachtet, kann man sich den alten Geistern nicht erwehren. Das eigene Wohl scheint bei einigen überproportional über den gemeinsamen Zielen zu stehen und dies lässt sich in der Tabelle ablesen. Um Missverständnissen vorzubeugen: Nur die extremsten Fußballromantiker träumen davon, dass im heutigen kommerzialisierten Sport die Spieler noch im Stolz der Raute auf das Feld laufen. Das die Egoismen des Einzelnen aber zum größtmöglichen Gemeinwohl führen, ist aber nur in der theoretischen Welt eines Adam Smiths zu finden. Mit der Realität hat dies freilich wenig zu tun. Ob im Sport oder bei jedem anderen Unternehmen, ein Mindestmaß an Identifikation mit dem Arbeitgeber ist unabdingbar. Wenn jeder nur seine eigenen Interessen verfolgt, wird der Karren zwangsläufig im Graben landen. Oder um das Bild von Max Eberl zu benutzen: Das gallische Dorf ist zu klein geworden und einige seiner Bewohner träumen sehnsüchtig von Lutetia. Die römischen Garnisonen in Kleinbonum und Babaorum reiben sich genüsslich die Hände.

Doch woher soll diese Identifikation kommen? Eigengewächse, die eine natürliche Verbundenheit mit dem Verein haben, sind schon seit langem eine Seltenheit geworden. Betrachtet man, wer in den vergangenen Jahren den Sprung von der Nachwuchskraft in eine der höchsten Ligen geschafft hat, fallen einem ter Stegen, Jantschke, Elvedi oder Herrmann ein, Beyer scheint zudem auf dem Sprung zu sein. Dies ist mitnichten ein Zufall, denn schon ein Blick auf die Nachwuchsmannschaften ergibt ein ernüchterndes Bild. Während die B-Jugend durchaus erfolgreich der Konkurrenz aus Dortmund, Leverkusen, Köln und Schalke die Stirn bietet, misst sich die A-Jugend bereits mit dem Nachwuchs aus Münster, Duisburg und Wuppertal, Bochum ist bereits enteilt, von den anderen Bundesligisten ganz zu schweigen. Dies ist keine Momentaufnahme sondern bereits seit Jahren die betrübliche Praxis. Kein Wunder also, dass nur wenige Talente den Weg über die zweite Mannschaft in den Profikader schaffen. Schlimmer noch. Wer sich in der zweiten Mannschaft beweisen soll, läuft Gefahr, den Traum vom Profifussballer allenfalls in den unteren Ligen leben zu dürfen.

Das die Borussia trotzdem den Ruf eines Ausbildungsvereins hat, liegt vielmehr an einem erstklassigen Scouting, der jungen Talenten den Sprung in eine bessere Zukunft verspricht. Aktuell sind hier Scally und Koné zu nennen, aber auch Neuhaus, Thuram oder Hazard sind erst bei der Borussia zu Nationalspielern großer Fußballnationen gereift. Dies entspricht der Philosophie des Vereins, doch birgt diese eben auch Gefahren. Wer sich die Dienste internationaler Talente ohne Bindung zur Marke Borussia sichert, sich aber gleichzeitig in der Rolle des gallischen Dorfs gefällt, der darf sich nicht wundern, wenn seine Attraktivität mit der Entwicklung dieser Spieler sinkt. Borussia Mönchengladbach hat in den vergangenen 10 Jahren einen steilen Aufstieg erlebt. Dementsprechend sollten auch Anspruch und Ziele mitwachsen. Großkotzigkeit liegt diesem Verein sicherlich nicht, aber ein wenig mehr Selbstbewusstsein und weniger Understatement würden der Marke sicherlich helfen. Die Spieler sollten den Verein als groß wahrnehmen und nicht als reines Schaufenster. Natürlich wird man auch in Zukunft den Verlockungen von Manchester City und Real Madrid wenig entgegenzusetzen haben, aber bei allen finanziellen Mitteln der Konkurrenz nicht grade bei West Ham oder Southampton nervös werden. Denn es macht einen großen Unterschied, mit Mönchengladbach international zu spielen oder in der Premier League trotz höheren Gehalts gegen den Abstieg.

Es liegt also viel Arbeit vor Max Eberl und seinen Getreuen. Langfristig wird man die eigene Nachwuchsförderung wieder stärker gewichten müssen um eine bessere Durchlässigkeit von Talent zu ermöglichen und eine höhere Identifikation mit dem Verein zu schaffen. Mittelfristig wird man nicht umher kommen, die eigene Philosophie zu adjustieren und die Borussia als mehr als nur ein Sprungbrett erscheinen zu lassen. Hierzu gehören, auch wenn es nicht jedem schmecken wird, selbstbewusste Ziele und weniger Understatement. Kurzfristig wird man aber den aktuellen Kader überprüfen müssen und zwar nicht nur nach Talent sondern auch hinsichtlich der Einstellung und Arbeitsethos. Es bringt nichts, darüber froh zu sein, dass sich ein Spieler trotz laufenden Vertrags dafür entscheidet, auch nächstes Jahr noch bei der Borussia zu spielen. Solches kokettieren ist Gift für jede Mannschaft. Wandernde sollte (und muss) man ziehen lassen, denn auch bei höchstem Talent reichen eben 90% Einsatz nicht, um in der Bundesliga zu bestehen.