Als das schwierigste und anstrengendste aller Laster beschrieb William Somerset Maugham die Heuchelei: Man könne sie nicht nebenbei betreiben, Heucheln sei ein Full-time-Job. So gesehen fragt man sich, wie Peter Neururer überhaupt noch Zeit zum Trainieren finden will. Denn auch wenn die Bilanz des peinlichsten Tänzers der Liga ansonsten titelmäßig ziemlich mau daherkommt, in der Kunst des Doppelgesichts hat er es zur Meisterschaft gebracht. Als Holger Fach einst Ewald Lienen auf dem Gladbacher Trainerstuhl ablöste, plusterte sich Neururer aus der Ferne als Hüter von Moral und Ordnung in einer Weise auf, die mit seiner ansonsten sehr überschaubaren Wichtigkeit dissonierte. Was an der Wahrnehmung einer vertraglich fixierten Ausstiegsklausel "sittenwidrig" gewesen sein soll, blieb dabei das Geheimnis des Freundes der schnellen Phrase. Auch konnte man fragen, ob für die Rolle des Sittenwächters der Mann die Idealbesetzung war, der sich in Zeiten eigener Arbeitssuche stets auf den Tribünen jener Stadien inszeniert hatte, in denen gerade der Stuhl eines Kollegen wackelte.

In dieser Woche schloß sich der Kreis in so abgeschmackter Manier, daß man sie einem Roman allenfalls als bewußt eingesetztes und unterschwellig ironisiertes Klischee verzeihen würde. Neururer löste nämlich in Hannover nicht nur genau jenen Trainer ab, zu dessen Rächer er sich vor Jahren aufgeschwungen hatte, er tat das auch in einer Weise, die, zurückhaltend formuliert, ein Geschmäckle hatte. Kurz zuvor hatte Neururer zunächst öffentlichkeitswirksam mit einem Angebot aus Nürnberg kokettiert, um dann in selbst für Bundesligagewohnheiten ungeahnt stilloser Manier während eines wichtigen Spiels seine Absage auf der Mailbox des dortigen Sportdirektors zu hinterlassen. Nicht wenige Zeitungen argwöhnten schon da, Neururer werde seine Arbeitslosigkeit nur sehr kurz und kaum ohne gute Gründe verlängert haben. Mögliche Vakanzen zeichneten sich in Hannover, Stuttgart und Köln ab, diese schätze Neururer wohl als attraktiver ein, stehe womöglich schon in geheimen Verhandlungen und nutze die Nürnberger Option nur als Faustpfand im Gehaltspoker. Neururer wies solchen Verdacht mit treuherzigem Augenaufschlag weit von sich: Vielmehr sei es ihm tiefempfundene ethische Verpflichtung, sich jedem Gespräch über ein mögliches Engagement zu verweigern, solange der Kollege dort noch im Amt sei. Das habe er auch diesmal so gehalten und stehe mit keinem anderen Verein in Kontakt.

Daß ihm das mehr als die eingefleischtesten Fans seines neuen Clubs abnehmen, glaubt Neururer wohl selbst nicht. Sicher ist, daß der arbeitssuchende Trainer sich durch die Nürnberger Verhandlungsposse sehr effektiv ins mediale Rampenlicht manövriert hatte. Zeitgleich waren aus Hannover recht deutliche Signale zu vernehmen, die darauf deuteten, daß man nur noch auf den richtigen Zeitpunkt wartete, um die intern bereits weitestgehend beschlossene Beurlaubung Ewald Lienens publik zu machen. Wenig überraschend erwies sich der Nachfolger, dessen Name sofort bekannt und der nach sehr kurzer Anstandsfrist von nur einem halben Tag auch offiziell präsentiert wurde, als niemand anderes denn der ehrenwerte Herr Neururer.

Inwieweit kann man ihm sein Verhalten verübeln? Die Nürnberger, bei denen er sich immerhin entschuldigt hat, werden die Absage schon deshalb verschmerzen, weil sie sich inzwischen die Dienste eines weitaus kompetenteren Übungsleiters gesichert haben. Und daß man in der Bundesliga bei einer sich anbahnenden Trainerentlassung darauf verzichten könnte, schon vor der endgültigen Entscheidung bei möglichen Nachfolgern vorzufühlen, daran glaubt nur, in wessen Kopf Peter Pan und Puh der Bär fröhlichen Ringelreigen tanzen. Bei den Summen, um die es geht, wäre solches Versäumen grob fahrlässig.

Das offen zu sagen wäre indes riskant, weil insbesondere die Boulevardpresse zwar gern Ehrlichkeit einfordert, sie dort, wo sie tatsächlich praktiziert wird, aber gnadenlos abstraft: Man erinnere sich nur daran, wie in der letzten Spielzeit ein Gladbacher Stürmer medial geschlachtet wurde, weil er aussprach, was ohnehin alle wissen: daß kaum ein Spieler aus eigenen Stücken zum Schiedsrichter geht und ihn ersucht, ein irregulär erzieltes Tor für die eigene Mannschaft nicht anzuerkennen. Auch hierin gleicht das Showgeschäft Bundesliga der Politik: Es sind die völlig überzogenen moralischen Erwartungen, die teils an die Akteure herangetragen, teils von ihnen selbst geschürt werden, die Heuchelei mit geradezu zwingender Notwendigkeit produzieren. All das mag man Peter Neururer zugute halten. Dennoch: Für die nächsten paar Jahre wäre es ganz schön, wenn er uns mit weiterer Selbstbeweihräucherung als vermeintliche moralische Führungsfigur verschonen könnte.