Keine Frage: Deutschland kann sich glücklich schätzen, mit Manuel Peter Neuer und Marc-André ter Stegen über zwei der weltbesten Torhüter zu verfügen, die beide in fast jedem anderen Land einen Stammplatz als Nationalkeeper sicher hätten. Da unter Jogi Löw aber nur einer spielen kann, wird diese Personalie seit einigen Jahren kontrovers diskutiert. In den vergangenen Wochen gewann das Duell zusätzlich an Brisanz, da im Champions-League-Endturnier das direkte Duell zwischen den beiden Klubteams der Torhüter anstand. Mit 2:8 unterlag ter Stegens Barcelona, was seinen Ambitionen auf einen Machtwechsel im deutschen Gehäuse nur sehr bedingt half.

Obwohl der Ex-Borusse an keinem der acht Gegentore eine Schuld traf, gibt es nichts zu beschönigen: Auch er hatte an diesem Abend in Lissabon einen rabenschwarzen Tag erwischt und zur desolaten Defensivleistung der Katalanen beigetragen. Ausgerechnet der für seine fußballerischen Qualitäten oft als „Messi unter den Torhütern“ gefeierte ter Stegen leistete sich eine ungewöhnlich hohe Zahl an Fehlpässen. Es gibt solche Tage, an denen nichts gelingen soll und für ihn war es ausgerechnet der Tag des „großen Duells“.

Manuel Neuer hingegen hatte in der Runde zuvor gegen den FC Chelsea einen ebenso schlechten Tag erwischt und u. a. einen Gegentreffer verschuldet. Er wurde aber von seinem Team durch einen Sieg „gerettet“, sodass dieser Fehler nicht genauso wesentlich ins Gewicht fiel. In den darauffolgenden Spielen des Turniers steigerte sich Neuer enorm und wurde spätestens im Finale für seine herausragende Torwartleistung zurecht gefeiert – wenn auch teilweise für Paraden, die aufgrund einer Abseitsstellung allein für die Galerie waren.

In den Jahren 2013 bis 2016 stand noch außer Frage, dass der damals viermalige Welttorhüter die unumstrittene Nr. 1 im deutschen Tor war. Durch seinen Beitrag zum WM-Titel hatte sich Neuer in Deutschland ein Standing des Unantastbaren erarbeitet. Rivale ter Stegen war damals erst auf dem Weg zur Weltklasse, den er in Gladbach begonnen und 2014 mit seinem Wechsel nach Spanien fortgesetzt hatte.

Während der Gladbacher in Barcelona immer mehr an Profil und Qualität gewann, schlug das Schicksal bei Neuer in Form zweier langwieriger Verletzungen zu, die ihn von 2016 bis 2018 über nahezu zwei Jahre komplett außer Gefecht setzten. Deutschland qualifizierte sich mit einem starken ter Stegen für die Weltmeisterschaft 2018 und gewann 2017 dank ihm den Confed Cup. Nicht nur deshalb war es eine ebenso irrsinnige wie falsche Entscheidung von Joachim Löw, bei der WM auf einen halbfitten Neuer zu setzen, dem ganz offensichtlich die Spielpraxis fehlen musste. Zwar war dem Ex-Schalker das peinliche Ausscheiden nicht anzulasten, aber bei zwei der vier Gegentore wirkte er zumindest unglücklich. Was nach einer solch langen Pause aber normal war, da es für jeden Fußballer eine gewisse Zeit braucht, bis sich bestimmte Automatismen wieder einstellen.

In der darauffolgenden Bundesliga-Saison 2018/19 zeigte sich ebenfalls, dass Neuer noch lange nicht wieder der Alte war. Statt Weltklasse war er nur noch gehobener Bundesliga-Durchschnitt, während ter Stegen fast im Wochenrhythmus mit sensationellen Paraden auf sich aufmerksam machte. Für den konsequent das Leistungsprinzip ignorierenden Löw war dies trotzdem kein Grund, etwas an seiner alten Rangordnung zu ändern.

Diese Saison war zwar eine Steigerung beim Münchner Keeper zu erkennen, aber an alte Glanztage knüpfte er nur in wenigen Spielen an. Erst das jüngste Champions-League-Turnier könnte – mit Ausnahme der Partie gegen Chelsea – als Beleg für die Rückkehr des „alten Neuer“ in die Weltklasse herhalten. In eine Klasse, in der sich ein ter Stegen seit einigen Jahren ohne jeden Zweifel befindet.

Während es sportlich also wieder ein Duell auf Augenhöhe ist, sieht es charakterlich anders aus. Manuel Neuer machte in den vergangenen Monaten durch ein unglückliches Urlaubsvideo von sich reden, bei dem er in Kroatien einen nationalistischen Liedtext einer faschistischen Band fröhlich mitsang. Dies allein ist noch kein Grund für übermäßige Kritik, da er vermutlich in dieser beschwingten Situation zusammen mit seinen kroatischen Freunden nicht wusste, was er tat. Was die Angelegenheit aber unerträglich machte, war die Reaktion des Nationaltorhüters. Diese bestand nämlich in einem wochenlangen Schweigen und Aussitzen. In einem gesellschaftlichen Klima, in dem nationalistische Vereinigungen und Parteien europaweit immer mehr an Zuspruch gewinnen und eine sehr wichtige Anti-Rassismus-Debatte in Gang gesetzt wurde, wäre der Kapitän der deutschen Nationalmannschaft in der Pflicht gewesen, in aller Deutlichkeit – und gerne auch Kürze – zu erklären, dass ihm nicht bewusst war, welche Band er dort unfreiwillig protegiert hat und dass er sich von solch nationalistischem oder gar faschistischem Gedankengut zu 100% distanziert. Damit wäre er seiner Vorbildfunktion gerecht geworden und hätte einer Vielzahl seiner Fans gezeigt, dass gerade der Fußball für Toleranz und Weltoffenheit steht. Indem Neuer stattdessen nach einigen Wochen kundtat, dass er und sein Verein eher über die Diskussion den Kopf geschüttelt hätten, vermittelte stattdessen den Eindruck, dass das zunehmende Problem des Nationalismus und Rassismus in unserer Gesellschaft von Neuer und dem FC Bayern kleingeredet wird. Hier wäre im Übrigen auch von Jogi Löw eine klare Ansage seinem Kapitän gegenüber angebracht gewesen.

Doch spätestens mit dem Gewinn der Champions League ist diese Episode in den Medien endgültig in Vergessenheit geraten. Wer Erfolg hat, hat immer Recht und dank des Triple könnte Neuer wahrscheinlich auch in aller Öffentlichkeit Kinder verspeisen und würde damit ohne größere Probleme durchkommen. Selbst wenn man sein Urteil nicht von einer einzigen Partie abhängig machen darf: Für die nächsten Monate hat sich Neuer von seinem Konkurrenten im deutschen Tor jetzt erst einmal abgesetzt – unabhängig davon, dass dieser durch eine Operation ohnehin bis November ausfallen wird. Noch kurz vor dieser hatte ter Stegen in den sozialen Medien mit einem klaren, selbstkritischen Beitrag zur 2:8-Schmach von sich Reden gemacht, in dem er sich bei seinen Fans für die peinliche Leistung entschuldigte und nicht per verbalem Reklamierarm nach Ausreden suchte. Wie auch immer man das Duell sportlich bewerten möchte: Charakterlich hat es damit einen klaren Sieger gefunden.