Lange Gesichter im Borussia-Park, lange Gesichter vor den Fernsehern in den Wohnungen der Fans. Borussia hat das erste „Endspiel“ um den Einzug ins Achtelfinale der Champions League verloren – und das auf eine Art und Weise, die zumindest in Fankreisen nach dem Abpfiff vielfach als „typisch borussisch“ klassifiziert wurde. Wie ein Seitenwahl-Redakteur treffend bemerkte: Warum können wir eigentlich nur Drama? Tatsächlich hatte das Spiel durchaus Potenzial, in die leider lange Reihe der unglücklichen – manche mögen sagen unfairen – Niederlagen der Borussen-Geschichte einzugehen. Die Möglichkeit besteht, dass die komplette Gruppenphase der diesjährigen Champions-League am Ende einen Verlauf nimmt, der die Schlagzeilentexter europaweit quasi verpflichten wird, die Gruppe B am Ende mit dem Attribut „verrückt“ zu belegen.

Aber wie unglücklich oder gar unfair war die Niederlage gegen Inter Mailand? Sind es vor allem Gladbacher Selbstmitleid und das ewige Underdog-Selbstbild, das die Emotionen nach dem Spiel so hoch trieb, oder war Mailand wirklich mit dem Teufel oder dem Schiedsrichter im Bunde? Klar sollte nach Ansicht der 90 Minuten sein, dass Borussia keineswegs die klar bessere Mannschaft war. Zwar gab es eine lange Phase im Spiel, in der das Team dominierte, man war aber jederzeit verwundbar. Das lag vor allem an großen Lücken, die sich immer wieder in der Defensive auftaten. Die gedachte Ordnung war offenbar zunächst Viererkette in der Rückwärts-, Dreierkette in der Vorwärtsbewegung, die Vermutung liegt nahe, weil Marco Rose nach dem Spiel erklärte, durch das Ausscheiden von Tony Jantschke „auf Dreierkette umgestellt“ zu haben. In Wahrheit standen die Außenverteidiger aber schon in der ersten Halbzeit stets sehr hoch, klafften große Lücken in der Abwehr, was die Mailänder zu mehreren Chancen kommen ließ. Die Befürchtung, Romelo Lukaku würde den für den verletzten Elvedi ins Team gerutschten Jantschke schwindelig spielen, bewahrheitete sich lediglich ein Mal, Jantschke verteidigte sonst gewohnt solide und verhinderte mit Einsatz aller legal verwendbaren Körperteile einen früheren Rückstand. Schwerer ins Gewicht fiel das Fehlen von Ramy Bensebaini. Sein Vertreter Oscar Wendt war an zwei von drei Gegentoren entscheidend beteiligt. Rausrücken zur falschen Zeit und Zweikampfvermeidung führten mittelbar zum 0:1 und zum 1:3. Im Zustandekommen dieser beiden Treffer hatten weder Teufel noch Schiedsrichter Aktien. Mailand profitierte von der lockeren Staffelung der Defensive, vom für das Spiel mit Dreierkette vielleicht etwas zu geringen Tempo einiger Borussen und natürlich auch davon, dass erwähnter Lukaku von kaum einem Verteidiger über 90 Minuten aus dem Spiel zu nehmen ist. Auch offensiv tat sich Borussia zeitweise schwer. Mailand stand sicher und in den ersten knapp dreißig Minuten des Spiels war Borussia fast mitleiderregend ideenlos. Aus gefühlten 90 Prozent Ballbesitz vermochte die Mannschaft nicht das geringste Kapital zu schlagen. Das 0:1 war mitnichten ein überraschender Wirkungstreffer sondern folgerichtig.

Die gute Phase der Borussen begann im letzten Drittel der ersten Halbzeit. Die Mannschaft besann sich auf schnelles, direkteres Spiel und zeigte damit die Verwundbarkeit der Mailänder Abwehr auf. Ebenso folgerichtig wie der Rückstand war der Ausgleich nach einem sehenswerten Angriff und einer punktgenauen Flanke von Lazaro auf den Kopf von Alassane Plea, der sich dank eines geschickten Laufwegs enormen Platz im Mailänder Strafraum geschaffen hatte. Bis zum nicht gegebenen 3:3 blieb es dabei: Borussia hatte Mittel, um Mailand gefährlich zu werden, bot dem Gegner aber auch immer wieder die erwähnten Lücken an, um selbst in Gefahr zu geraten. So weit, so unterhaltsam war die Partie. Derart offen gestalteten beide Teams das Spiel, dass ein knapper Sieg für beide Gegner oder ein Unentschieden am Ende als gerecht hätten empfunden werden können – wenn, ja wenn da nicht die zwei mit entscheidenden Szenen vor dem 1:2 und dem vermeintlichen 3:3 gewesen wären.

Borussenbrille auf: Vor dem 2:1 durch Lukaku wurde Marcus Thuram im Mittelfeld von zwei Gegenspielern in die Zange genommen und gefoult, wodurch er den Ball verlor und Mailand einen schnellen Angriff fahren konnte, den Lukaku zugegeben brillant veredelte. Beim nicht gegebenen Ausgleichstreffer stand Breel Embolo zwar am Fünfmeterraum und auch einen Zentimeter im Abseits, griff aber weder ins Spiel ein noch nahm er dem Torwart die Sicht. Pleas drittes Tor war korrekt, schon gar nicht lag eine klare Fehlentscheidung vor, die das Eingreifen des VAR nötig gemacht hätte.

Borussenbrille ab: Vor dem 1:2 verliert Thuram einen harten aber noch regelkonformen Zwei- bzw. Dreikampf und geht dabei eher freiwillig zu Boden, wird für diese Einlage aber nicht belohnt. Beim nicht gegebenen Ausgleich steht Embolo Abseits und irritiert den Torwart allein durch seine Anwesenheit und sein Hochspringen, als der Schuss von Plea an ihm vorbei ins Tor rauscht. Dass der VAR eingreift, ist richtig, dass der Schiedsrichter sich umentscheidet und den Treffer nicht gibt, ist hart, aber vertretbar.

These, Antithese – aber keine Synthese in diesem Fall. Die Borussenbrille hat man auf oder eben nicht. Wie SEITENWAHL bebrillt ist, muss nicht weiter ausgeführt werden.

Es bleibt noch anzumerken, dass mit der Entscheidung, den Ausgleich abzuerkennen, ein Bruch im Borussenspiel war. Der Wille, noch etwas auszurichten, war zu sehen, die Fähigkeit nicht. Borussia spielte in den letzten Spielminuten zu hastig und unpräzise, wollte viel und erreichte nichts mehr. Dass der Schiedsrichter eine lange Unterbrechung der Nachspielzeit nicht einrechnete und einen letzten Angriff mit seinem Schlusspfiff unterband, passt ins Bild: Formal korrekt, trotzdem ätzend. Wie unter dem Strich der ganze Abend.

Vor dem letzten Spieltag in Gruppe B haben noch alle Teams die Möglichkeit, das Achtelfinale zu erreichen. Borussia kann das nach wie vor aus eigener Kraft. Ob die allerdings reicht, um bei Real Madrid zu bestehen? Gleichzeitig ist das Szenario gar nicht unwahrscheinlich, dass Borussia am Ende hinter der Mannschaft landet, die sie spielübergreifend mit 10:0 besiegt hat. Sollte Borussia das Achtelfinale verpassen, liegt das an der Kombination aus sehr späten Gegentreffern und ausnahmslos negativ ausgefallenen Kann-Entscheidungen eines Schiedsrichters. Ob man am Ende eigene Blödheit, großes Pech oder teuflisches Schicksal dafür verantwortlich macht, mag jeder mit sich selbst ausmachen.