bayern neu

Gerne wird in diesen Tagen an den 2:1-Heimerfolg über den FC Bayern aus der vergangenen Saison erinnert. Es war der damalige Höhepunkt einer unerwarteten und beeindruckenden Phase im Herbst 2019, als Borussia den ewigen Rivalen als Tabellenführer empfing und ein Spiel gewann, wie es sich Fans stets ausmalen: Rückstand und Siegtor in der Nachspielzeit, der Borussia-Park bebte. Mehr als ein Jahr und eine Pandemie später sieht die Lage vor dem Duell mit dem Deutschen Meister leider anders aus. Und das liegt nicht nur daran, dass die beiden Helden von damals, Ramy Bensebaini und Marcus Thuram, dieses Mal entweder eine kleinere oder gar keine Rolle werden spielen können.

Immerhin, das als kleiner Rückblick, gelang der Start nach der Weihnachtspause, die den Namen so nicht verdient hat. Aber wir alle haben uns an alle möglichen Absurditäten und Ungewohntes in Corona-Zeiten schon irgendwie gewöhnt. Der 1:0-Sieg in Bielefeld vor Wochenfrist durch Breel Embolos Tor liest sich knapper, als er tatsächlich war. Borussia verpasste es leider einmal mehr, durch mehr Tore ein Spiel frühzeitig zu unterscheiden und ließ den Gegner unnötig am Leben, doch dazu später mehr. Sei’s drum, die drei Punkte waren sehr notwendig, um den Kontakt zu den Champions-League-Plätzen nicht noch mehr abreißen lassen zu müssen.

Nach wie vor entwickelt sich diese Saison merkwürdig und lässt mindestens zwei Lesarten zu. Borussia hat nur vier Punkte Rückstand auf Champions-League-Platz vier, steht im Achtelfinale der Champions League sowie in der gleichen Runde des DFB-Pokals. Alles auf Kurs, so scheint es. Am gleichen Spieltag der Vorsaison hatte die Mannschaft satte zehn Zähler mehr gesammelt, sich jedoch schon aus beiden Pokalwettbewerben verabschiedet. Die Optimisten, zu denen der Autor dieser Zeilen grundsätzlich auch zählt, sagen, dass viele Punkte nur durch eigene Unzulänglichkeiten liegengelassen wurden und nicht durch mangelnde Qualität, sprich: gelingt es Borussia, sich tatsächlich fokussierter am Riemen zu reißen und Führungen – die es zuhauf gab – mal zu Ende zu bringen, stehen die Chancen gut, auch in der kommenden Saison wieder Champions League spielen zu können. Weil der Kader diese Leistung hergibt.

Die Pessimisten weisen jedoch darauf hin, dass die Probleme in der Abwehr respektive im gesamten Abwehrverhalten zu signifikant seien und dass nahezu jeder Gegner, ganz gleich welcher Qualität, sich gegen Borussia Chancen erspielt und folgerichtig auch zu viele Tore erzielt. Hier gehen ein bisschen Wahrnehmung und Fakten auseinander, denn um ein letztes Mal den 15. Spieltag der Vorsaison als Vergleich heranzuziehen: damals hatte Borussia nur drei Gegentore weniger. Der Unterschied liegt tatsächlich darin, dass 2019/2020, gerade in der Hinrunde, viele Spiele schlichtweg gewonnen wurden. Selbst die, in denen Borussia nicht unbedingt geglänzt hat. Zum Beispiel das eingangs erwähnte Heimspiel gegen eben diese Bayern, die Borussia damals in der ersten Halbzeit eine Lehrstunde erteilt haben und bis heute niemand weiß, warum es zum Pausentee nicht 0:3 oder 0:4 aus Gladbacher Sicht stand. Es ist das vielfach zitierte Spielglück, das Borussia in der laufenden Saison zu oft nicht mehr hat. Von den vier Remis zu Hause hätten nur zwei gewonnen werden müssen und Borussia stünde nun punktgleich mit dem viertplatzigen BVB.

Nun ist Borussia jedoch eine Mannschaft, die sehr viel – um nicht zu sagen zu viel – von einzelnen Spielern lebt. Natürlich wird auch bei Borussia das Mantra der Mannschaft als Einheit gepredigt. Das Fehlen von Ramy Bensebaini, Jonas Hoffmann oder jetzt Marcus Thuram, die nach wie vor nicht hundertprozentige Fitness eines Denis Zakaria, all das schlägt sich dermaßen signifikant in der Leistungsfähigkeit auf dem Platz nieder, dass nur Betriebsblinde dies negieren würden. Dazu ein zehnprozentiger Leistungsabfall eines Yann Sommer und die offensichtliche Überspieltheit nahezu der gesamten Abwehrkette (Matthias Ginter, Nico Elvedi und Stefan Lainer gehören zu den Feldspielern mit den meisten Einsatzminuten der gesamten Liga): diese wenigen Zutaten reichen bereits, um die Ergebniskrise, die Borussia in der Liga seit Monaten spürt, zu erklären.

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So langsam bessert sich die Situation jedoch wieder. Hätte Thuram gegen Hoffenheim nicht seinen Aussetzer gehabt, könnte Marco Rose am Freitagabend seine vermeintliche Top-Elf für den Kader nominieren. Valentino Lazaro wird definitiv ausfallen, Thuram  aufgrund seiner Rotsperre ebenso. Für Bensebaini reicht es nach seiner langwierigen Covid-19-Erkrankung noch nicht für 90 Minuten, er wird jedoch sicherlich im Laufe der Partie eingewechselt oder, je nach Zustand, vielleicht sogar beginnen, um dann von Wendt ersetzt zu werden. Zakaria, Kramer und Hofmann werden voraussichtlich im Mittelfeld beginnen, Stindl, Plea und Embolo im Angriff.

Rose zeigte sich auf der Pressekonferenz vor dem Spiel erstaunlich selbstbewusst, sprach davon, dass man „die Bayern schlagen“ könne. Und dass er und sein Trainerteam natürlich wüssten, wo die Schwachstellen des Gegners lägen.

Denn der Rekordmeister aus München offenbart in dieser Saison eine ebenso erstaunliche Anfälligkeit in der Defensive, mit 21 Gegentoren liegen die Münchner fast gleichauf mit Borussia. Zudem lag die Mannschaft bereits diverse Male in Rückstand, konnte die Spiele jedoch (fast) immer gewinnen beziehungsweise Niederlagen verhindern und ist damit so ziemlich das Gegenteil von Borussias Schlafmützigkeit, Führungen zu Siegen zu machen. Auch ein Grund, warum die Münchner diesmal als Tabellenführer und nicht zum Tabellenführer anreisen.

Nicht wenige hatten vor der Saison, der Autor eingeschlossen, eine kleine Chance gewittert, die ewige Dominanz der Bayern in dieser Saison zumindest stark in Angriff nehmen zu können. Wenngleich der FC Bayern ohne jeden Zweifel im Jahr 2019/2020 die beste Mannschaft der Welt stellte, so erwartbar war auch ein Motivationsloch im Herbst. Nach fünf Titeln im Sommer ist es menschlich, dass sich auch Weltklassespieler in der Folgesaison im grauen Bundesligaalltag gegen Bremen, Berlin oder Mainz mitunter schwertun. Bayerns größte Qualität unter Trainer Hansi Flick war jedoch schon vergangene Saison nicht ausschließlich spielerische und individuelle Klasse, sondern charakterliche Stärke und Geschlossenheit. Diese Eigenschaft ist es, die die Bayern gerade in den vergangenen Spielen davor bewahrte, die ein oder andere Niederlage einstecken zu müssen, die sehr wohl im Bereich des Möglichen lag. Der Nimbus der Unbesiegbarkeit ist nicht mehr vorhanden, aber noch reicht es für viele Mannschaften nicht, die Bayern über 90 Minuten in die Knie zu zwingen. Und wer in Robert Lewandowski den besten Fußballer der Welt in seinen Reihen hat, wird in jedem Spiel seine Chancen bekommen. Selbst in diesem mit Nationalspielern gespickten Kader gibt es einen spür- und sichtbaren Leistungsschub, wenn Lewandowski dann doch in der zweiten Hälfte eingewechselt wird, um ein Spiel zu drehen, in dem er eigentlich geschont werden sollte.

Im Spiel am Freitagabend wird Letzteres nicht der Fall sein, Lewandowski wird natürlich im Sturmzentrum beginnen. Serge Gnabry wird keine Option sein, dafür wird Kingsley Coman wieder im Kader und wahrscheinlich auch in der Startelf stehen. Dazu Thomas Müller als Freigeist hinter, neben oder vor Lewandowski plus Nationalspieler Leroy Sané auf dem Flügel. Viel Arbeit also für Gladbachs Außenverteidiger, das Tempo von Coman und Sané zu kontern.

Das Mittelfeld aus Joshua Kimmich und Leon Goretzka ist eines der besten Europas. Die beiden kombinieren Lauf- und Spielstärke, sind beide unglaublich aggressiv im Zweikampf und Gegenpressing. Es wird spannend zu sehen, wie sich Stindl, Hofmann und auch Zakaria hier aus der Affäre schlagen werden.

Die Abwehr ist, wie bereits erwähnt, das Sorgenkind der Münchner. Viele Gegner haben inzwischen Wege und Mittel gefunden, das sehr hohe Pressing der Münchner zu überspielen. Einen Tempomangel hat der FC Bayern in der Abwehrkette wenngleich nicht, denn Süle und besonders Alonso Davies sind enorm schnelle Spieler. Im Tor wird Manuel Neuer hoffentlich mindestens einen Aussetzer haben, den er sich ja gerne mal leistet. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass er bei jeder abgefangenen Flanke vom „kicker“ wieder mit dem Prädikat „Weltklasse“ geadelt wird. Ohne Frage ist Neuer einer der besseren Torhüter auf der Welt. Die absurde Überhöhung seiner oft soliden, aber nicht überragenden Leistungen durch weite Teile der Medien und Fans ist mittlerweile fast schon lustig.

Für Borussia wird es auch darauf ankommen, die Anfangsphase des Spiels gut zu überstehen. Nach dem peinlichen 0:2-Pausenrückstand gegen Mainz am vergangenen Spieltag ist davon auszugehen, dass die Bayern am Freitagabend – auch im Wissen um ihren „Angstgegner“ und der damit verbundenen, erhöhten Konzentration – sehr aggressiv beginnen werden. Im Laufe des Spiels wird Borussia ihre Chancen bekommen, weil die Münchner Räume anbieten werden. Dennoch, und darüber sollten sich alle im Klaren sein, kann das Spiel auch schnell zu einem Desaster werden, wenn die Fohlen in der Offensive ähnlich schlampig mit ihren Chancen umgehen und in der Defensive die leider zu oft gesehenen Schlafmützigkeiten und individuellen Aussetzer präsentieren.

Die Tipps der SEITENWAHL-Redaktion:

Christian Spoo: Die Kräfte sind ähnlich verteilt wie beim letzten Aufeinandetreffen im Borussia-Park. Diesmal schlägt sich das auch im Ergebnis nieder. Bayern gewinnt mit 4:1.

Claus-Dieter Mayer: Bayern liegt wieder einmal im Rückstand, die Borussia schafft es wieder einmal nicht einen (diesmal sogar 2-Tore) Vorsprung über die Zeit zu bringen. Am Ende wird es ein achtbares aber nicht sonderlich hilfreiches 2:2.

Thomas Häcki: Vorne Chancenwucher, hinten wackelig, Publikum Fehlanzeige. Es gibt nicht viel was für die Borussia spricht. Bayern zeigt beim ungefährdeten 3:0 Erfolg ganz klar die Kräfteverhältnisse auf.

Mike Lukanz: Die Bayern liegen Borussia irgendwie, daher erwarte ich ein durchaus gutes Spiel. Dennoch: Die Defizite, die sich bereits durch die ganze Saison ziehen, werden ein erneutes Happy End verhindern. Die Gäste nehmen beim 1:3 alle drei Punkte mit.

Michael Heinen: Wenn selbst Mike schon pessimistisch ist, traue ich mich nicht, dem zu widersprechen. Borussia spielt zwar ordentlich, ist am Ende aber chancenlos und verliert 1:3. Mike knows best.