Die Bescheidenheit gilt im Allgemeinen als sehr positive Charaktereigenschaft. Etwas anders bewertete das der deutsche Lyriker Friedrich Hebbel, der sie einst für die abscheulichste Tugend der Menschheit hielt: „Das Nichts glaubt dadurch etwas zu werden, daß es bekennt: Ich bin nichts!“. Auch Johann Wolfgang von Goethe urteilte kritisch: „Nur die Lumpe sind bescheiden. Brave freuen sich der Tat.“ Borussias derzeit Verantwortliche möchte man – anders als einige ihrer Vorgänger – ganz bestimmt nicht als „Lumpen“ bezeichnen. Dennoch bietet ihr neuer Hang zur Bescheidenheit ein allzu bequemes Alibi dafür, sich mit dem Status Quo zufriedenzugeben und es sich im Mittelmaß bequem zu machen. Etwas mehr Goethesche Tatkraft neben und auf dem Platz würde der Borussia dieser Tage guttun.

Wurde noch vor Saisonbeginn u. a. von Vorstand Rainer Bonhof sowie von Führungsspielern wie Lars Stindl oder Jonas Hofmann das Saisonziel Europa ausgerufen, so will die Vereinsführung davon mittlerweile nichts mehr wissen. Diese utopischen Träume seien nur von außen an den Verein herangetragen worden. Ein Platz unter den sechs besten Vereinen sei mit der aktuellen Mannschaft nicht zu machen. Träume von der Champions League – wer auch immer diese jemals ernsthaft gehabt haben mag – seien ohnehin unrealistisch. Beim Anblick der bisherigen Saisonleistung und der Darbietungen in den vergangenen drei Jahren kann dies nur unterstrichen werden. Borussia steht in der Tabelle genau da, wo sie von ihren derzeitigen Möglichkeiten offensichtlich hingehört. Zufrieden darf der Verein damit aber nicht sein, denn er ist bereits sehr weit fortgeschritten, den finanziellen und vor allem sportlichen Vorsprung zu verspielen, der in den vergangenen zwölf Jahren mühsam erarbeitet wurde. Ein Blick auf Vergleichszahlen zu anderen Bundesligisten verdeutlicht, dass die aktuelle Ambitionslosigkeit kein Selbstverständnis sein darf:

  • Beim Zuschauerschnitt liegt Borussia mit durchschnittlich 52.112 Besuchern auf Platz 4.
  • Bei den Fernsehgeldern liegt Borussia auf Platz 6.
  • Bei den Transferausgaben seit der Saison 2011/12 liegt Borussia mit 301 Mio. Euro auf Platz 6.
  • Beim negativen Transfersaldo liegt Borussia in diesem Zeitraum sogar mit -61 Mio. Euro auf Platz 4.
  • Bei den Marktwerten von Transfermarkt.de liegt Borussia mit 233 Mio. Euro auf Platz 6.
  • Bei den letzten vom Sporting Intelligence Survey veröffentlichten und aus den offiziellen Finanzkennzahlen der DFL abgeleiteten Gehaltszahlen lag Borussia in den Spielzeiten 2017/18, 2018/19 und 2019/20 jeweils auf Platz 7. Die damals vor ihnen positionierten Schalker dürften durch den zwischenzeitlichen Abstieg inzwischen aber zurückgefallen sein.
  • Bei den Trainergehältern liegt Borussia respektive Daniel Farke laut Statistischem Bundesamt mit 2,2 Mio. Euro auf Platz 6.

Selbst wenn solche Statistiken immer mit Vorsicht zu genießen sind, geben sie in der Gesamtheit einen Eindruck davon, dass Borussia in den vergangenen Jahren in einen Kader investiert hat, der europäischen Ansprüchen gerecht werden sollte und es bis vor wenigen Jahren in sehr ähnlicher Besetzung auch wurde. Warum es ihr in ihrer aktuellen Zusammensetzung nicht gelingt, haben verschiedene Artikel auf dieser Seite in den letzten Wochen analysiert.

Daniel Farke startete mit einigen Vorschusslorbeeren angesichts seiner Erfolge in England und seiner starken Rhetorik. Dies war verbunden mit der Hoffnung, es könne ihm gelingen, aus dieser unharmonisch zusammengewürfelten Ansammlung individuell starker Einzelspieler irgendwie so eine Einheit zu formen, die zumindest um die internationalen Plätze mitspielt. Der Verweis, im Vorjahr zum selben Zeitpunkt der Saison noch etwas schlechter dagestanden zu sein, ist korrekt. Dies war damals aber ein Grund für den Rauswurf von Adi Hütter. Ihn konnte damals selbst eine deutliche Steigerung zum Saisonende nicht mehr retten, die man der aktuellen Borussia kaum zutrauen mag.

Das unsägliche 1:4 in Berlin hat endgültig verdeutlicht, dass diese Mannschaft in der aktuellen Zusammensetzung von europäischen Ambitionen weit entfernt und offensichtlich nicht in der Lage ist, Farkes Spielidee nachhaltig erfolgreich umzusetzen. Daran würde selbst ein neuerlicher Erfolg gegen Lieblingsgegner Bayern München nichts ändern. Die Partie hat vielmehr einen Lose-Lose-Charakter. Entweder Borussia kassiert eine weitere Pleite oder aber sie wird sich den Vorwurf gefallen lassen müssen, wieder einmal nur in besonderen Partien ihre Bestleistung abgerufen zu haben.

Spiele gegen den FC Bayern München laufen in den vergangenen Jahren sehr häufig nach demselben Muster ab. Der Rekordmeister startet aufgrund einer längeren Siegesserie (aktuell vier in Folge) mit breiter Brust und gilt als haushoher, nahezu unschlagbarer Favorit. Sobald die Partie angepfiffen wird und die Super-Bayern die wahlweise schwarz, weiß und/oder grünen Trikots mit der Raute sehen, erstarren sie in Ehrfurcht und schrumpfen zu einem ganz normalen Gegner. In den letzten vier Partien blieb Borussia mit zwei Siegen und zwei Remis ungeschlagen. Daheim konnten sogar fünf der letzten acht Spiele siegreich gestaltet werden, bei nur zwei Niederlagen (eine davon allerdings mit einem spoorakeligen 1:5).

Personell gibt es auf beiden Seiten offene Fragen. Bei den Bayern wird Trainer Nagelsmann vermutlich gegenüber dem erfolgreichen 1:0-Sieg in Paris ein wenig rotieren. Bei Borussia steht insbesondere ein Fragezeichen hinter dem Einsatz von Marcus Thuram und Joe Scally. Letzterer kann ohne größeren Qualitätsverlust mit Lainer getauscht werden, während es für den Franzosen keinen echten Ersatz im Kader gibt. Am ehesten möchte man Alassane Plea die zentrale Sturmposition zutrauen. Hier scheint Farke ihn aber nicht zu sehen, sodass evtl. Lars Stindl diese Rolle einnehmen könnte.

Marcus Thuram sieht sich dieser Tage heftiger Kritik ausgesetzt, da seine Leistungen sehr stark von denen der Hinrunde abweichen. Galt er für Farke damals aufgrund der Anzahl der erzielten Tore (ohne Elfmeter) als „bester Stürmer der Liga“, so müsste er nach derselben Logik im Jahr 2023 als „schlechtester Angreifer des Landes“ angesehen werden. Die Wahrheit liegt wie so oft in der Mitte, denn schon in den vergangenen Jahren zeichnete sich der Vize-Weltmeister durch sehr schwankende Leistungen und längere Schwächephasen aus. Von daher muss die aktuelle Flaute nicht unbedingt mit seinem bevorstehenden Abgang in Verbindung stehen. Er darf sich aber nicht wundern, wenn ihm dies von einigen Fans so ausgelegt wird.

In gleicher Weise nimmt die Kritik am Trainer und Sportdirektor mit zunehmender Erfolglosigkeit ganz folgerichtig zu. Wurden die Elogen von Farke zu Saisonbeginn noch abgefeiert, so wird ihm dieselbe Rhetorik nun als nervige Schönrednerei ausgelegt. In der hyperemotionalen Fußballwelt wird beides in gewohnter Weise oft übertrieben dargestellt.

In der Hinrunde wurde zwar eine gewisse Spielidee des Trainers sichtbar, die sich aber bis dato nicht nachhaltig bewähren konnte. Viel zu oft funktioniert Farkes Ballbesitzfußball nur dank starker Einzelaktionen der individuell hochwertigen Offensivkräfte. Erwischen ein bis zwei von ihnen einen guten Tag, so kann dies ggf. schon zu einem Sieg reichen. Auf diese Weise wird die Mannschaft mit ziemlicher Sicherheit die noch nötigen Punkte ergattern, um sich zumindest von der Abstiegszone fernzuhalten. An den meisten Tagen ist Borussias Spiel aber viel zu behäbig, einfallslos und vor allem langsam, um gegen einen kompakt stehenden und kämpfenden Bundesligisten allzu viel ausrichten zu können. Jeglicher Ballbesitz bewirkt nur dann etwas, wenn er auch zu zwingenden Chancen und letztlich zu Toren führt. Hierzu sind überraschende, schnelle Spielzüge die wirksamste Waffe, die Borussia aber viel zu selten einsetzt.

Zwei bis drei Transferperioden wünscht sich Daniel Farke Zeit, um seine Spielidee zu optimieren und durch entsprechend taugliche(re) Spieler umsetzen zu können. Ein klares Eingeständnis dessen, wie unzufrieden er mit der Zusammenstellung des aktuellen Kaders ist. Die Ehrlichkeit und Offenheit des Trainers dürfen positiv hervorgehoben werden. Letztlich ist es aber eine der Kernaufgabe eines jeden ambitionierten Trainers, aus dem vorhandenen Spielermaterial das Optimum herauszuholen und ggf. seine Spielidee den Erfordernissen des Kaders anzupassen. Hier hatte man zuletzt nicht wirklich das Gefühl, dass Farke dies gelingt.

Die Zusammensetzung des Kaders ist zuvorderst ein Erbe des ehemaligen Sportdirektors. Aber auch Roland Virkus wird sich spätestens an den nächsten zwei bis drei Transferperioden messen müssen. Hierbei ist ihm mehr Erfolg zu wünschen als er in den vergangenen Jahren als Nachwuchsleiter hatte. Er selbst hat mehrfach eingeräumt, wie sträflich die für Borussia so wichtige Säule der Jugendspieler zuletzt vernachlässigt wurde. Dass er selbst in seiner ehemaligen Funktion in entsprechender Verantwortung stand, hat er dabei stets unerwähnt gelassen.

Das Fohlen, das derzeit mit Abstand die besten Aussichten auf einen Durchbruch auf allerhöchstem Niveau hat, wird seine Zukunft aller Voraussicht nach weiter in England verbringen. Von dort wird kolportiert, der FC Burnley habe im mehr als wahrscheinlichen Aufstiegsfall in die Premier League eine Kaufoption auf Jordan Beyer, die sie aller Voraussicht nach ziehen werden. Dies passt zu den jüngsten Aussagen von Virkus, der durchblicken ließ, ihn bei einer ausreichend hohen Ablöse nicht unbedingt von der Insel loseisen zu wollen. Borussia scheint derzeit mehr Interesse an einer Weiterverpflichtung von Julian Weigl zu haben als an der Rückkehr eines in England gereiften Eigengewächses mit hohem Potential.

Man möchte hoffen, dass das Duo Farke/Virkus die herbeigesehnten zwei bis drei Transferperioden Zeit bekommen wird, um die eigenen Vorstellungen umzusetzen und eine neue ambitionierte(re) Borussia aufzubauen. Dies wird aber nur möglich sein, wenn der Verein schon kurz- bis mittelfristig gewisse Ansätze erkennen lässt, dass der eingeschlagene Weg mit diesen Personen zielführend ist. Dabei geht es nicht nur um Ergebnisse, sondern stärker um eine vielversprechende Perspektive, die spätestens in der nächsten Saison erkennbar werden sollte.

Eine Fortsetzung der Erfolgsserie gegen die Bayern wäre sehr erfreulich. Relevanter aber wird es u. a. sein, wie die Mannschaft danach an einem kalten und regnerischen Freitagabend in Mainz auftreten wird. Borussias Fans dürfen schon erwarten, dass sich die Mannschaft in solchen Spielen gegen vermeintlich kleinere Klubs nicht regelmäßig vorführen lässt, wie in Berlin bereits zum achten Mal in dieser Saison. Bei aller Bescheidenheit darf dies nicht der Anspruch eines Vereins wie Borussia Mönchengladbach sein.

Mögliche Aufstellungen

Borussia: Omlin – Lainer, Itakura, Elvedi, Bensebaini – Weigl, Koné – Hofmann, Kramer, Plea – Stindl

Bayern: Sommer – Pavard, Upamecano, de Ligt – Kimmich, Goretzka – Cancelo, Sane, Musiala, Davies – Choupo-Moting

Seitenwahl-Tipps

Michael Heinen: „Borussias Erfolgsserie gegen die Bayern lebt davon, dass man ihr vor der Partie meist nicht viel zutraut. So ist es auch dieses Mal und ich werte das als gutes Omen, das ich nicht durch einen optimistischen Tipp zerstören möchte. Borussia wird tapfer mithalten, sich am Ende aber der bajuwarischen Übermacht mit 1:2 geschlagen geben müssen.“

Volkhard Patten: „Wie immer gegen Bayern zeigt das Team eine engagierte Leistung. Nach dem 1:1 fragen sich die Fans zu Recht, warum das nur gegen die Schwergewichte der Liga klappt.“

Christian Spoo: „Gegen die Großen strengen sie sich dann wieder an“, so die wenig schmeichelhafte Prognose vieler Anhänger nach dem Larifari-Gekicke der vergangenen Wochen. Aber das ist nicht mehr die Hinrunde. Borussia geht nicht nur sang- und klanglos unter. 0:4. Dass Bayern dabei in der zweiten Halbzeit ein paar Gänge zurückschaltet, führt freilich dazu, dass Daniel Farke einen klaren Aufwärtstrend ausmacht.“

Thomas Häcki: „Kurz vor Schluss fällt ein kurioses Tor für die Borussia. Pavard spielt den Ball zurück, aber Yann Sommer ist bei dem Gladbacher Angriffswirbel bereits eingeschlafen. Nützt aber nichts, Bayern hat bereits viermal getroffen.“

Christian Grünewald: „Die Serie als Bayern-Schreckt reißt. Borussia verliert chancenlos mit 0:4 und die Verantwortlichen dürfen sich bestätigt sehen, dass selbst ein einstelliger Tabellenplatz dieses Jahr als Erfolg gewertet werden müsste. Warum auch immer es mit diesem Kader so weit kommen musste.“