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8:8 lautete das Torverhältnis zwischen Borussia und Real Madrid in den bisherigen 4 Partien, das macht im Durchschnitt ein 2:2. Durchschnittlich war das gestrige Champions-League-Gruppenspiel gegen den spanischen CL-Rekordsieger jedoch bestimmt nicht. Vor dem Spiel hatte der geschätzte Peter Ahrens im Spiegel noch einen schönen Artikel verfasst, indem er beschrieb wie er als Achtjähriger dem Match der Borussia gegen Real 1976 im Rheinstadion beiwohnte. Leider musste die gestrige Neuauflage dieser Partie ohne die Zuschauerkulisse, die sie verdient gehabt hätte, auskommen, aber trotzdem kann man sich gut vorstellen, dass man auch in 44 Jahren noch über sie schreiben wird. Es war eine jener Europapokal-Schlachten, die man nicht so schnell vergisst und wie es sich für Borussia Mönchengladbach gab es nicht nur einen großen Gegner, zeitweise fantastischen Fohlen-Fußball, sondern auch ein tragisches Ende. Müsste man einem Fremden, der nichts von diesem Verein weiß, den VFL erklären, so würde es vollkommen ausreichen, eine Aufzeichnung der gestrigen 94 Minuten im Borussiapark zu zeigen.

Borussias Aufstellung war dabei fast identisch mit der, die 6 Tage zuvor bei Inter Mailand begann, mit der Ausnahme, dass Breel Embolo durch Lars Stindl ersetzt wurde. Auch ansonsten gab es Parallelen zum Auftaktspiel in der Vorwoche: Borussia begann mit hohem Pressing, kam aber zu Beginn zu wenig Ballbesitz. Der Gegner aus Real ließ den Ball gekonnt zirkulieren und dominierte das Spiel zunächst, kam gegen eine sehr wachsame Gladbacher-Abwehr aber nicht zu ganz großen Chancen. Bald wurde aber auch der Unterschied zum Auftritt in Mailand klar: Kamen die Borussen mal in Ballbesitz so lief das Leder erheblich besser durch die eigenen Reihen als in der Vorwoche und auch wenn zunächst keine klaren Chancen erspielt wurden, spürte man doch die potenzielle Gefahr die, die Gladbacher Offensive für Real darstellte. Und so kam die Führung in der 33. Minute zwar überraschend, aber sie war nicht völlig unlogisch. Wer geglaubt hatte, der Neuhaus-Pass vorm 2:1 in Mailand würde auf Jahrzehnte unübertroffen bleiben, sollte sich noch mal gut Pleas Zuspiel zu Thuram in dieser Szene anschauen. Das war so wundervoll genau und perfekt, dass auch die für den VAR zuständigen Kellerkinder sich die Szene immer wieder anschauen wollten, bevor sie den Treffer endgültig bestätigten. Veredelt wurde das ganze natürlich durch Thurams Abschluss. Welch ein Tor! Direkt aus dem Lauf, die Geschwindigkeit des Passes mitnehmend gezielt mit der Innenseite in die obere rechte Ecke des Tores. Ich und mein 5-jähriger Sohn haben bei dieser Szene unser Wohnzimmer dermaßen zusammengebrüllt, dass man die 46 000 Zuschauer im Borussia-Park kaum noch vermisste.

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Damit war die Borussia endgültig im Spiel angekommen und die Weichen für ein großes Drama gestellt. Die Madrilenen agierten keineswegs geschockt, sondern zogen weiterhin geduldig ihr Ballbesitzspiel auf, Borussia verteidigte höchst konzentriert in einem gut organisierten Verbund auch vor der Viererkette und setzte immer wieder Nadelstiche. Die zweite Halbzeit begann mit einer kleinen Drangphase der Königlichen, bei der einmal auch die Latte retten musste, aber die Borussia kam darauf wieder besser ins Spiel und erzielte in der 58. Minute durch Thurams Abstaubertor das 2:0.  Plea und Stindl hatten in den Folgeminuten sogar die Chancen, die Führung zu erhöhen. Es war die beste Phase der Borussia, die immer wieder schnell konterte und den 13-fachen Champions-League Sieger an den Rand einer Blamage drängte.

Aber Borussia wäre nicht Borussia, wenn sie so ein Spiel dann einfach so schadlos über die Zeit bringen könnte. In den letzten 20  Minuten drängte Real natürlich, Marco Rose versuchte durch die Hereinnahmen von Herrmann, Embolo und Wolf für Thuram, Plea und Stindl frisches Blut die Gladbacher Angriffsreihe zu bringen, die zuvor aufopferungsvoll gekämpft hatte. Leider gelang es den neuen Spielern nicht mehr ganz so gut für Entlastung zu sorgen und gerade als man sich so langsam mit dem Gedanken anfreunden konnte, dass die Borussia dieses Spiel tatsächlich gewinnen könne, fiel der Anschlusstreffer für Madrid, der in gewisser Weise dem ersten Tor Inters eine Woche zuvor ähnelte. Wieder wurde die Borussenabwehr von einem Ball überrascht, den man eigentlich schon im Aus gewähnt hatte. Diesmal köpfte Casemiro den Ball von der Grundlinie zurück, wo er von Benzema rückwärts fallend verwertet wurde.

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Spätestens jetzt schwante jedem Borussenanhänger böses. Eine bezeichnende Szene für die Schlussphase ereignete sich in der 90. Minute: noch einmal hatte der VFL es geschafft in die Madrider Abwehr zu kommen, hat die Chance sich dort vor dem Strafraum Ballbesitz aufzubauen, und Hannes Wolff versucht es irgendwie mit der Hacke den Ball weiterzuleiten und verliert ihn. Es ist sicher unfair den Neuzugang aus Leipzig zum Sündenbock in diesem Spiel zu machen, aber es war die Art von Unkonzentriertheit, die es über weite Teile in diesem Spiel einfach nicht gegeben hatte, und die man vor allem von einem noch frischen Spieler nicht erwartet hätte. So kam es dann wie es kommen musste: Reals Brechstange hatte letzten Endes Erfolg als Modric einfach mal aus dem Halbfeld flankte, Kopfball Ramos, Casemiro hält den Fuss hin und Tor.

Auch einen Tag später ist es nicht leicht, dieses Spiel zu beurteilen. Die Enttäuschung bleibt riesig, ein fast perfektes Spiel am Ende doch noch hergegeben zu haben. Und als jemand der sich noch sehr gut an die historischen Duelle mit Real 1976 und 1985 erinnert, kann ich versichern, dass diese Verbitterung auch nie verschwinden wird. In Mailand war das anders, da hatte man nach dem Rückstand eigentlich schon wie der Verlierer ausgesehen und konnte daher letztendlich mit dem Unentschieden leben, aber das gestrige Spiel war 86 Minuten lang wohl eines der besten der Gladbacher Europapokalgeschichte, wird aber nun leider für immer nur der „verschenkte Sieg“ bleiben. Dass die Leistung zumindest der Startelf dabei überragend war, ist kaum ein Trost, gerade deswegen ist es ja so ärgerlich.

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Aber kann man Lainer, Elvedi, Ginter, Bensebaini etc vorwerfen einen 2:0-Vorsprung nicht gehalten zu haben, wenn Klinkhammer, Vogts, Wittkamp, Stielike und Co das damals auch nicht geschafft haben? Dass es nicht ganz leicht ist, eine Führung gegen Real zu halten hat ja auch Donezk in der Vorwoche gespürt, denn ohne VAR-Eingriff hätten die Ukrainer auch nur ein 3:3 aus Bernabeu mitgenommen. Wie auch immer, auch nach einer Nacht fühle ich mich von diesem Spiel immer noch physisch und psychisch erschöpft, so mitgenommen hat mich glaube ich seit der Relegation 2011 kein Gladbach-Spiel mehr. Vielleicht ist das ja die positive Take-Home-Message: Ob am Ende erfolgreich oder nicht, die Borussia 2020 kann wieder auf höchstem Niveau Spiele liefern, über die man vielleicht auch 2064 noch in einem Spiegel-Artikel schreiben wird.

Das Seitenwahl-Fazit:

Uwe Pirl: Vor dem Spiel hätte ich das 2:2 unterschrieben, nach dem Spiel nicht mehr, heute Morgen unterschreibe ich wieder. Natürlich sind die Gegentore in der Schlussphase super ärgerlich. Die Mannschaft sollte aber das Positive mitnehmen: Die Erkenntnis, mit einer starken Leistung auch auf diesem Niveau mithalten zu können.

Thomas Häcki: Respecto Borussia. Das weiße Ballett am Rande einer Niederlage zu haben ist aller Ehren wert. Das der Sieg so spät aus der Hand gegeben wurde zeigt aber auch, dass man noch nicht reif ist, um im Ballett der Großen mitzutanzen. Nun heißt es Lerneffekt mitnehmen und sich auf die ungleich wichtigere Bundesliga konzentrieren.

Mike Lukanz: Statt sechs Punkten hat man jetzt nur zwei. Die beiden Spiele gegen Donezk werden leider schon zur Nagelprobe. Und nein, wir müssen auch endlich mal in den Modus kommen, dass wir nicht mehr von „achtsamen“ Erfolgen sprechen, sondern dass wir uns maximal ärgern, diese Gruppe jetzt nicht anzuführen.

Christian Spoo: Nein, auch mit einer Nacht Abstand kann ich das 2:2 nicht als Erfolg werten. Dass Borussia in internationalen Spielen am Ende die große Flatter bekommt, entwickelt sich zum Muster. Immerhin hat sich um 22:50 gezeigt: Fußball bzw Borussia kann in mir immer noch gewaltige Emotionen auslösen. VERDAMMTE SCHEISSE!

Michael Heinen: Man stelle sich vor, Real hätte bis zur 85. Minute erwartungsgemäß mit 2:0 geführt und Borussia in der Schlussphase ausgeglichen. Gleiches Ergebnis - völlig andere Gefühlslage. Zudem muss man anerkennen, dass die Halbzeitführung gegen dominierende Madrilenen glücklich war. In der zweiten Hälfte hatte Borussia den Gast dann lange Zeit im Griff und hätte sich so den Sieg verdient gehabt. Über 90 Minuten war das Remis aufgrund der Spielanteile aber ebenfalls nicht ganz ungerecht. Real konnte mit Modric und Hazard zwei Weltstars einwechseln, während die kampfesmüden Borussen durch Herrmann, Wolf und Embolo für ihren Topsturm Plea, Thuram, Stindl eine deutliche Qualitätseinbuße hinnehmen mussten. Borussia ist beileibe nicht der erste Verein, der auf diese Weise einen unglücklichen Last-Minute-Treffer gegen einen Topklub wie Real kassiert hat.