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Borussia ist eine Top-Adresse im Deutschen Fußball. Ein familiärer Verein, die öffentlich sichtbaren Verantwortlichen zeichnen sich durch Bodenständigkeit und Jovialität im Umgang aus. Man ist fest verwurzelt in der niederrheinischen Heimat. Man steht gegen Kritik von außen zusammen, nimmt einander und auch die Spieler in Schutz. Ein Konglomerat aus Supertypen, wenn mal jemand fragt.

Borussia ist ein Verein auf dem absteigenden Ast. Seit dem Ende der Ära Rose agiert die Mannschaft ohne jede Konstanz, wechseln sich brauchbare mit unterirdischen Auftritten ab. Die vermeintlich vorhandene spielerische Qualität bringt das Team oft nicht auf den Platz, unter Druck bricht sie regelmäßig ein. Borussia ist auf einer durchgehenden Schussfahrt vom Champions-League-Anwärter zum Abstiegskandidaten. Das Ausscheiden aus dem DFB-Pokal, nicht zum ersten Mal gegen einen auf dem Papier schwächeren Gegner, bildet nur den vorläufigen Tiefpunkt einer deutlich erkennbaren Negativentwicklung.

Was hat das eine mit dem anderen zu tun? Vermutlich eine ganze Menge. Vielleicht bedingt das eine gar das andere. Man hat es gerne nett am Niederrhein. Und tatsächlich sind Rainer Bonhof, Roland Virkus, Steffen Korell – kaum jemand, der mit ihnen zu tun hat, bestreitet das – wirklich nette Menschen. Dazu der grundsolide Stephan Schippers, der für mittelständisches Augenmaß steht und wie Virkus tief in Mönchengladbach verwurzelt ist. Borussia wäre ein Musterbetrieb, wäre man nicht gerade im Profifußball unterwegs. Bei diesem Musterbetrieb fühlen sich auch die Angestellten wohl. Kaum ein Spieler, der nicht lobende Worte über die Atmosphäre bei Borussia findet. Kurze Wege, lange Leine, familiäre Strukturen. Bei Borussia lässt es sich bequem arbeiten und alt werden. Auch hier: Musterhaft für einen mittelständischen Handwerksbetrieb. Aber für einen Profifußballverein?

Mit Gerardo Seoane verzweifelt gerade der dritte Trainer in Folge an der Mannschaft. Die hat personell gar nicht mehr viel mit der Mannschaft zu tun, an der Adi Hütter verzweifelt ist und auch die, an der Daniel Farke verzweifelt ist, wissense, sah anders aus. Die Entwicklung legt folglich nahe, dass es nicht vor allem am Trainer liegt und auch nur bedingt am Spielermaterial. Es muss da noch etwas anderes sein. Was ist da im Trinkwasser, dass fast jeder Spieler bei Borussia im Lauf der Zeit eher schlechter als besser wird? Was läuft falsch, wenn die Mannschaft seit Jahren nicht stabil wirkt? Wer trägt die Verantwortung, wenn ein Team nie mehr ist, als die Summe der einzelnen Teile sondern eher weniger?

Schauen wir zunächst auf die klaren Fakten: Die Mannschaft ist nicht optimal zusammengestellt. Bei der Zusammenstellung des Kaders wird entweder nach Kassenlage statt nach echtem Bedarf gearbeitet, die Bedarfsanalyse ist von vorneherein falsch oder im Scouting bzw. Recruiting stimmt etwas nicht. Auf einigen Positionen ist Borussia überbesetzt, auf anderen gibt es nur eine Notbesetzung.

Rechtsaußen haben beispielsweise Nathan Ngoumou und Franck Honorat ihre Stammposition, zwei vergleichsweise teure Spieler, die aber nur gemeinsam auf dem Platz stehen können, wenn einer von ihnen auf die linke Seite ausweicht. Das ist dann in der Regel Ngoumou, wenngleich Honorat die Position bei Brest eine ganze Weile erfolgreich gespielt hat. Einen echten Linksaußen dagegen sucht man im Kader vergeblich. Oder die defensiven Außen: Hier ist Joe Scally eins der Paradebeispiele für die Entwicklung von Spielern bei Borussia. Der US-Amerikaner begann für einen damals 19-Jährigen stark, hat sich in seiner Zeit bei Borussia keinen Schritt mehr weiterentwickelt, bestenfalls stagniert. Stefan Lainer galt nach der Ära Hütter schon als Verkaufskandidat, zu teuer, zu durchschnittlich für die damals noch höheren Ansprüche. Inzwischen ist der Österreicher schon fast Hoffnungsträger, um der Defensive die dringend nötige Stabilität zu verleihen (allerdings wird es dadurch nicht klüger, ihn bei Standards gegen Spieler zu stellen, die ihn um einen oder mehrere Köpfe überragen). Auch hier fehlt links das Gegenstück. Max Wöber ist zwar Linksfuß, aber eigentlich Innenverteidiger, Luca Netz verteidigt für einen Linksverteidiger einfach zu schlecht. Schlauerweise gibt es mit dem junge Lukas Ullrich einen weiteren Spieler im Kader, der fast deckungsgleich dasselbe spielt, wie Netz. Dafür hat Borussia vier gelernte Innenverteidiger, plus Tony Jantschke, den man eigentlich immer noch bringen könnte, aber nicht zu bringen braucht, weil es genug Alternativen gibt. Oder das zentrale Mittelfeld. Hier gibt es mit Weigl, Koné und Reitz, dazu noch dem Teilzeit-Profi Kramer, vier Spieler, die man wohl eher als „Achter“ denn als „Sechser“ betrachten muss. Der echte Sechser dagegen, im Tuchel-Deutsch die geborene „Holding Six“ ist nicht da. Weigl spielt das mit mäßigem Erfolg, aber es ist nicht die Rolle, für die er gemacht ist. Zudem ist er in der Doppelrolle als gedachter Anführer und ordnende Hand in der Defensive offenkundig überfordert. Aber er fühlt sich wohl bei Borussia.

Das ist das nächste Problem, hier kommen wir dann allerdings von den Fakten in den Bereich der Interpretation: Bei Borussia spielen überwiegend Profis, die wissen oder lernen mussten, dass sie am Zenit sind. Dass es für mehr nicht reicht, dass ein Stammplatz bei Borussia das Maximum dessen ist, was sie in ihrer Karriere erreichen können. Das gilt für Honorat, das gilt für Jordan, das gilt, wie er spätestens seit dem Sommer weiß, für Elvedi, das gilt für Friedrich, für Lainer usw. Hatten sie größere Ambitionen, wurden sie in Gladbach eingebremst. Marvin Friedrich kam als gefühlter Führungsspieler und Nationalmannschaftskandidat und wurde in Rekordzeit zum Bankdrücker und Unsicherheitsfaktor. Manu Koné gilt noch als Kandidat für größere Aufgaben, sein Marktwert ist in den vergangenen Monaten dank der gezeigten Leistungen aber im freien Fall. Das Ergebnis ist eine Mannschaft von Spielern, die an ihrem echten Limit spielen oder wissen, dass sie nie an ihr Limit gehen müssen, damit es irgendwie weitergeht. Und man lässt sie gewähren. Das geringe Alter, den Umbruch, die Wichtigkeit für die Kabine, irgend ein Argument findet sich im Grunde immer dafür, dass alles schon okay ist, wie es ist. Man macht sich geradezu Sorgen, wie es mit Rocco Reitz weitergehen mag, angesichts der zahlreichen unguten Vorbilder.

Wenn Roland Virkus sich nach dem Saarbrücken-Spiel erstmals dahingehend äußert, dass es womöglich ein Problem der Qualität ist, dass Borussia da steht, wo sie steht, ist das eine sehr späte Erkenntnis und eine, die vermutlich in den meisten Köpfen bisher nicht existierte.

Wenn ein Kader schwächer wird, hängt das sicher nicht zuletzt mit den finanziellen Bedingungen zusammen. Ob die konservative Herangehensweise des Geschäftsführers unter den aktuellen Bedingungen im Fußball-Business noch zeitgemäß ist, muss wohl diskutiert werden. Fans von Borussia – die Seitenwahl-Redaktion ausdrücklich eingeschlossen – sind im Grunde froh, dass der Verein unabhängig von den Launen großer Investoren und frei von äußeren Einflüssen arbeitet. Das Prinzip Schuldenbremse, es macht Borussia ein Stück weit aus. Es macht Borussia auch klein, aber damit sollte man leben können, wenn man der Raute verfallen ist.

Umso wichtiger sind andere Stellschrauben, um den Abwärtstrend abzubremsen und hoffentlich umzukehren. Wir verlassen damit den Bereich der Interpretation und wagen uns auf noch dünneres Eis, denn selbstredend schauen wir von außen auf den Verein, aus dem nur wenig Interna in die Öffentlichkeit geraten, was im Grunde eine gute Sache ist. Dennoch heißt die These: Bei Borussia herrscht ein leistungsfeindliches Klima. Man hat sich gern, man klopft sich gerne auf die Schulter, wenn nicht für die sportlichen Ergebnisse dann eben für das gute Klima, für die vielen netten Jungs, die für Borussia auf und neben dem Platz arbeiten. Alle fühlen sich wohl, niemand muss Angst haben, dass ihm der Stuhl vor die Tür gesetzt wird. Selbst wenn man sich mit Verve der Baller-League, dem Podcasting oder anderen öffentlichkeitswirksamen (und ggf ertragreichen) Hobbies widmet, gibt es dem Vernehmen nach keinen Anschiss, sondern lediglich einen freundschaftlichen Hinweis, man habe doch hoffentlich die Prioritäten noch klar. Den als Führungsspieler ausersehenen Profis macht niemand diesen Nimbus streitig, unabhängig davon, ob sie wirklich Führungsqualitäten sichtbar auf den Platz bringen. Für Borussia zu spielen, scheint bequem zu sein.

Wie gesagt, nicht alles dringt nach außen, aber wenn man die Gelegenheit hat, hier und da mal in den Verein hineinzuhören, dann gibt es zumindest keinerlei Hinweise darauf, dass intern völlig anders gesprochen wird. Aber was sagt das über die inneren Strukturen? Gibt es eine offene Fehlerkultur im Verein? Spricht man auch über Hierarchiegrenzen hinweg darüber, wenn Dinge nicht gut laufen? Spricht man die augenfälligen Probleme an oder bildet man intern eine Wagenburg, wenn sich von außen Kritik regt? Es ist nichts Ungewöhnliches, wenn in einem Betrieb, in dem viele Menschen lange miteinander arbeiten, ein gemütliches Klima einzieht. Es ist keine Schande, wenn sich Kollegen mögen, wenn man freundlich miteinander umgeht. Und wenn man Fliesen verkauft, Versicherungen oder Werkzeug, dann ist das vielleicht sogar richtig gut so. Wir haben es hier aber mit Profifußball zu tun. Wo jeder Fehler fatal sein kann. Wo man sich keine Nachlässigkeiten erlauben darf. Wo Loyalität nur bedingt zählt. Das Geschäft ist nicht nett, deswegen kommt man mit Nettigkeit auf Dauer nicht weit.

Bei Borussia sind offenbar grundlegende Dinge zu klären: Wie lässt sich die Kultur verändern, ohne die Identität aufzugeben? Ist das mit den aktuell handelnden Personen überhaupt möglich? Sitzen die richtigen Leute auf den richtigen Posten? Haben die Führungskräfte die Autorität, Dinge auch gegen Widerstände durchzusetzen, wenn Probleme erkannt werden? Ist man überhaupt bereit, Probleme anzuerkennen? Ist man bereit und in der Lage Mitarbeitenden, Spielern wie Funktionsträgern, Härten zuzumuten, wenn es nötig ist? Wie groß ist die Bereitschaft, Neuerungen zuzulassen? Braucht es neues Personal, das nicht schon im eigenen Saft weichgeköchelt ist? Braucht es für die Business-Seite des Ganzen auch mal Köpfe, die nicht aus dem Gladbacher Establishment stammen? Lässt man neuen Ideen auch den Raum, Dinge zu verändern (was macht eigentlich Nils Schmadtke so)?

Wir können all diese Fragen nicht wirklich beantworten. Wir sind nicht Teil des Vereins. Wir sind Fans und wir befürchten, dass am Ende dieser Saison wieder der Trainer gehen muss und sonst alles beim alten bleibt. Dabei würde bei Borussia, so wie sie sich im Moment darstellt, vermutlich auch Xabi Alonso scheitern. Wir fürchten dass der Abwärtstrend noch lange nicht gestoppt ist. Wir brauchen nicht die Champions League. Aber wir fragen uns schon, wie man in so verhältnismäßig kurzer Zeit von der Champions League in Richtung Abstiegszone rutschen konnte – und das nicht als Ausrutscher nach unten sondern in einer langsamen kontinuierlichen Bewegung bergab, unter vier verschiedenen Trainern. Bei Borussia liegt ganz offensichtlich Grundlegendes im Argen. Bitte, liebe Menschen in den entscheidenden Positionen, nehmt unsere Fragen ernst. Hinterfragt Euch selbst. Fühlt Euch nicht unbotmäßig attackiert. Aus uns spricht nichts als Sorge um Borussia. Denn Borussia ist nicht nur Königs, Virkus, Korell und Schippers. Borussia ist auch unser Verein.