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Borussia ist im Umbruch. Aus der alten soll eine neue Borussia werden, wie schön, dass sich beide am Wochenende ein Stelldichein gaben. Das 3:3 gegen Darmstadt war ein Fußballspiel der absurden Sorte. Es zeigte sehr deutlich, was bei Borussia in der Vergangenheit schief lief, weil es zeitweise immer noch unvermindert schief läuft. Es zeigte aber auch, dass in dieser Mannschaft das Potenzial steckt, die Anhänger zu begeistern und dass man so etwas wie „Mentalität“ in diesem Team offenbar wecken kann – wenn man es richtig anspricht. Der Prozess, den Borussia durchlaufen soll und muss, in Darmstadt, war er innerhalb von 90 Minuten plus Nachspielzeit in allen Facetten zu bestaunen.

Die erste Halbzeit am Böllenfalltor erlaubt nur eine Reaktion: Unglauben. Darmstadt 98 tat exakt das, was so ziemlich jeder, der sich vorher mit der Mannschaft und mit ihrer Herangehensweise beschäftigt hatte, wusste: Sie spielte mit großem Einsatz und extrem körperlich. Alle hatten das erwartet, alle außer zehn Mann. Die dummerweise grüne Trikots trugen und sich von der Herangehensweise der Darmstädter komplett überrumpelt sahen. Gefühlt war Borussia noch gar nicht am Ball, da stand es schon 2:0 für die Gastgeber, da hatten Marvin Friedrich und Julian Weigl schon demonstriert, wie man Zweikämpfen am ungeschicktesten ausweicht. Der Schneid, den Borussia in der ersten Halbzeit an den Tag legte, war so wertlos, dass man ihn ihr gar nicht abzukaufen brauchte. Borussia warf sich vor den aggressiv aber regelkonform agierenden Aufsteigern auf den Rücken wie ein unterwürfiger Köter. Verzweifelt versuchte man den früh draufgehenden Darmstädtern mit langen Bällen beizukommen. Die landeten zuverlässig beim Gegner, der daraufhin den nächsten Angriff auf das Tor von Moritz Nicolas einleiten konnte. Der Torhüter allein verhinderte, dass es nach 45 Minuten nicht noch schlimmer für Borussia aussah. Wie Ter Stegen gegen Japan war Nicolas der einzige Gladbacher, der in dieser ersten Hälfte seine Leistung brachte. An den Gegentoren war er komplett schuldlos. Ansonsten hatte es fast Slapstick-Nivau, wie sich zum Beispiel Joe Scally von den Darmstädtern immer wieder herumschubsen ließ, wie Alassane Plea jeden Ball verlor, weil er offenbar jede Handlungsschnelligkeit in der Kabine gelassen (oder gar im Sommerurlaub vergessen) hatte und wie orientierungs- und ganz offenbar auch motivationslos Marvin Friedrich rund um den eigenen Strafraum herumgeisterte, stets bereit, einem Zweikampf aus dem Weg zu gehen. Kurzum: Es war eine Minderleistung epischen Ausmaßes. Es war genau die Sorte von Auftritt, die wir durch den vielzitierten Umbruch eigentlich der Vergangenheit angehörig wähnten. Politisch unkorrekt formuliert: Zehn Weicheier gegen elf Männer. Wie das passieren konnte, wird aufzuarbeiten sein. Das sagte Trainer Gerardo Seoane nach dem Spiel auch selbstkritisch. Und wir fragen uns: Was ist in Mönchengladbach im Wasser, dass egal welche Spieler und egal von wem trainiert ihre Widerstandskräfte von heute auf morgen einbüßen?

Eine Halbzeitansprache später sah es dann ganz anders aus. Borussia kam wacher aus der Kabine, gleich viermal hatte Seoane gewechselt, die oben erwähnten schlechtesten der Schlechten waren draußen geblieben. Borussia zeigte einen hoffnungsvollen Angriff mit einer Doppelchance des eingewechsten Cvancara und seines Sturmpartners Jordan, und dann kam die Szene, die dem Spiel die Richtung für die folgenden 40 Minuten gab. Der Videoassistent unterbrach das Spiel, diverse Zeitlupen brachten zutage, was im Spiel kein Mensch gesehen hatte: Im Zweikampf mit Cvancara könnte Darmstadts Maglica den Ball mit der Hand berührt haben. Und in Super-Super-SloMo sah es dann tatsächlich, je nach Einstellung, so aus, als hätte er das sogar absichtlich getan. Die Folge: Elfmeter und rote Karte. Über Sinn und Unsinn des VAR ist viel gesprochen worden. In dieser Situation, und war es auch die, die Borussia zurück in die Erfolgsspur brachte, zeigte sich eher der Unsinn. Ein Regelverstoß, den man erst zu ahnen beginnt, wenn alle technischen Hilfsmittel ausgereizt sind, und bei dem selbst dann noch erhebliche Zweifel bleiben, sollte ungeahndet bleiben.

Tomas Cvancara sah das offenbar ähnlich und schoss den womöglich schwächsten Elfmeter der Bundesligageschichte, den Darmstadts Torwart Schuhen fast wie einen Rückpass aufnehmen konnte. Passte das noch zur ersten Halbzeit, war das Spiel danach ein anderes. Es spielte nur noch Borussia, Darmstadt war in Unterzahl plötzlich unsortiert und auch zunehmend kraftlos. Borussia spielte seine Überlegenheit in fußballerischen Dingen aus, Chance folgte auf Chance, das Selbstbewusstsein wuchs, der Darmstädter Vorsprung schrumpfte, drei Tore binnen zwanzig Minuten brachten die Gladbacher nicht zur zurück ins Spiel sondern sogar auf die sogenannte Siegerstraße. So absurd es nach Betrachtung der ersten 45 ist: Am Ende muss man sich ärgern, das Spiel nicht gewonnen zu haben. Chancen dazu waren da. Hack und Jordan hatten die größten.

Welche Erkenntnisse liefert nun der merkwürdige Auftritt, oder besser gesagt die zwei Auftritte von Darmstadt? Die Trinkwasserproblematik im Borussia-Park bedarf einer weiteren Analyse, ganz offenbar ist der vielzitierte „Prozess“ noch am Anfang. Dass Gerardo Seoane Spiele richtig lesen und die Konsequenzen richtig wählen kann, hat er jetzt schon wiederholt bewiesen. Ob Alassane Plea die Lust, die Luft oder was auch immer fehlt, muss Teil der Analyse der ersten Halbzeit sein und Konsequenzen haben. Dass Florian Neuhaus ein Zehner ist und nichts als ein Zehner sollte nach dem erfrischenden Auftritt des Vizekapitäns nach seiner Einwechslung – und den alles andere als erfrischenden auf der Sechser- und Achterposition – allen klar sein. Dass alle Ansagen bezüglich „Comittment“ für die Toilette sind, wenn es pressiert, hat Seoane mit der Einwechslung von Nico Elvedi für Marvin Friedrich deutlich gemacht, es sei denn, Elvedi hat in der Halbzeit seinen neuen Vertrag unterschrieben. So erfreut viele über die markigen Worte unter der Woche waren, so richtig war es, diesen Wechsel vorzunehmen. Friedrich bleibt den Nachweis seiner Bundesligatauglichkeit in regelmäßigen Abständen schuldig. Borussia hat in der Abwehr immer noch ein großes Problem, im Winter muss da auch personell etwas passieren, denn auch Joe Scally zeigt schon seit der vergangenen Saison nicht mehr das, was ihn zuvor zum Zukunftsversprechen und Nationalspieler gemacht hatte. Auf der positiven Seite ist zu vermerken, dass Moritz Nicolas ein wirklich ordentlicher Torwart zu sein scheint, dass man mit Rocco Reitz und Robin Hack arbeiten kann und das Tomas Cvancara weiß, wo das Tor steht.

Was nach dem 3:3 von Darmstadt uns allen aber auch mehr als klar sein sollte: Das einzige Ziel, das Borussia in dieser Saison haben kann, ist der Klassenerhalt.