Portrait 2023 24 Ngoumou

Wann immer in Seitenwahl-Internen Diskussion der Name Joonas Kolkka fällt, ist klar, dass ein Auswärtsspiel in Wolfsburg ansteht. Es war am 22. November 2003 als Kolkka, der nur eine Saison für Borussia spielen sollte, in der 77. Minute zum 3:1 für Gladbach traf. Dass dieser Sieg und dieses Tor sich so unvergesslich in die kollektive Erinnerung von Gladbachfans einbrannte, lag unter anderem daran, was danach geschah. Denn es sollte fast 18 Jahre dauern, bis den Borussen ein weiterer Sieg in Wolfsburg gelang (im September 2021 unter Adi Hütter). Aber auch andere Umstände machten jenen Tag besonders: Die Borussia hatte zuvor in 12 Saisonspielen nur 7 Punkte geholt, befand sich in akuter Abstiegsgefahr. Noch dazu war es die Zeit der „Auswärtsdeppen“; es war der erste Sieg nach 21 erfolglosen Auftritten in der Fremde!

Gewisse Parallelen zu damals sind nicht von der Hand zu weisen, aber nein, es ist nicht mehr 2003/2004! Die Borussia ist auf so vielen Ebenen erheblich besser aufgestellt, dass auch mehrere Jahre Inkompetenz in der sportlichen Führung nicht gleich alles einreißen, aber genau das bedeutet gleichzeitig auch, dass die Fallhöhe bedeutend höher ist. Überhaupt der Gedanke an Abstiegskampf oder ein mögliches Relegationsspiel sind angesichts der jüngeren Vergangenheit und des heutigen Status des Vereins ein Unding. Die Beispiele Hamburg, Schalke oder Hertha beweisen, dass ein Abstieg weit schwerwiegender sein kann als ein kleiner behebbarer Unfall oder ein wohltuender Neustart, wie ihn Stuttgart oder Bremen zuletzt erlebten. Insofern war die Angst, die in der letzten Woche in Gladbach um sich ging alles andere als übertrieben. Als dann auch noch Mainz und Köln am Samstag gewannen, schlug diese Angst in weiten Teilen (zumindest in den sozialen Netzwerken) in Panik um.

Die Erleichterung nach dem gestrigen Sieg ist daher immens und berechtigt. Dass auch Gerardo Seoane die Wichtigkeit der Partie erkannt hatte, konnte man schon der Aufstellung entnehmen, die nominell gleich 4 Innenverteidiger aufbot, wenn man denn Itakura als einen solchen sieht. Der Japaner spielte aber diesmal als Sechser, eine Position die er auch bei Schalke schon oft bekleidete und er tat dies insgesamt recht souverän. Eine weitere Umstellung war die Rückkehr von Alassane Plea in die Startelf, der zusammen mit Honorat und – etwas überraschend – Ngoumou die Offensive der Borussia darstellte.

Nun scheint aber, dass man die Gladbacher Defensive noch so stabil aufstellen kann, für ein frühes Gegentor ist sie trotzdem immer gut. Bereits der erste Wolfsburger Angriff saß, mit einem Pass wurde der rechte Flügel überspielt, Tomas legte den Ball in den Rückraum der Gladbacher Defensive ab und Baku verwandelte gekonnt. Man will gar nicht wissen wie viele „Täglich grüßt das Murmeltier“-Textnachrichten in diesem Moment unter Gladbachfans die Runde machten (kleiner Tipp: das ist kein sonderlich origineller Kommentar mehr, denkt euch was Neues aus!). Alles schien den erwarteten katastrophalen Verlauf zu nehmen. Immerhin konnten sich die Gladbach zur Halbzeitpause einreden, man sei doch ganz gut ins Spiel zurückgekommen (es gab in der Tat eine Reihe von Standards) während die Wolfsburger sich vormachen konnten, das Spiel kontrolliert zu haben (so sonderlich viel gab es da gar nicht zu kontrollieren). Neutrale Beobachter (wenn es welche gab, denn wer guckt sich sowas denn freiwillig an?) sahen hingegen vermutlich nur ein ziemlich langweiliges Bundesligaspiel auf mäßigem Niveau.

„Vielleicht haben wir ja Glück und irgendwann geht mal ein abgefälschter Ball irgendwie rein“ sind so die sinnlosen Sprüche, mit denen sich Fans versuchen Mut zu machen, wenn gar nichts mehr gehen will. Aber diesmal geschah genau das. Nach 7 Minuten in der zweiten Halbzeit kam Itakura aus der Distanz mal frei zum Schuss und hielt drauf.  Vermutlich hätte Pervan den Ball ohne Mühe gehalten, hätte nicht Jenz dankenswerterweise sein Knie so hingehalten, dass der Ball komplett die Richtung veränderte und ins frei linke Eck flog. Und es kam noch besser: Seoane hatte in der Halbzeit nichts geändert, außer dass er Honorat und Ngoumou die Seiten hatte wechseln lassen und in der 58. Minute passte Honorat (nun links) schön in den Lauf seines Landsmannes (nun rechts) und der schloss so überlegt ab, dass man sich kurz (aber auch nur sehr kurz) fragte, wie man solch einen Topstürmer denn damals für nur 8 Millionen bekommen konnte.

Und auf einmal war alles ganz anders: Wolfsburg hatte das Spiel in Wirklichkeit gar nicht kontrolliert, sondern war viel zu passiv gewesen und hatte die Zügel aus der Hand gegeben! Und Gladbach war gar nicht die willenlos am Boden liegende Trümmertruppe, sondern auf einmal die größte Anhäufung von Mentalitätsmonstern seit John Wayne und Dean Martin in Rio Bravo mit dem Burdette-Clan aufräumten. Um dies zu unterstreichen, verspielte man ausnahmsweise auch mal nicht die Führung, sondern baute sie kurz vor Schluss noch aus, wobei es guttat, dass man mit Torschütze Reitz sowie auch Hack zuvor Spieler einwechseln konnte, die der Mannschaft wirklich weiterhelfen konnten. Bis auf einen eleganten Fallrückzieher von  Maehl und einem gefährlichen Behrens-Kopfball hatte Wolfsburg in der zweiten Halbzeit auch wenig Gefahr heraufbeschworen.

Es war sicher keine Glanzleistung Gladbachs am Sonntagnachmittag, aber man hat sich kollektiv gegen die Niederlage gewehrt und die Möglichkeit genutzt, als sie sich ergab. Positiv zu nennen sind Jonas Omlin, der nach seiner Horror-Rückkehr in der Vorwoche erstaunlich souverän wirkte, beim Behrens-Kopfball hervorragend reagierte und gerade fußballerisch mehrfach stilvoll Wolfsburger Angreifer ins Leere laufen ließ. Plea zeigte kein großes Spiel, aber seine Präsenz und spielerische Klasse halfen der Mannschaft sichtbar weiter. Mann des Tages war Honorat, der wieder mal mit seinen Sprints für viele der Offensivszenen der Borussia verantwortlich war und das 2:1 fein vorbereitet hatte.

Rein punktemässig liegt die Borussia nun auf einmal wieder näher an einem vermutlichen Europapokalplatz als am Relegationsplatz. Also alles wieder gut? Nein! Das Minimalziel Klassenerhalt ist immer noch nicht ganz sicher, dafür fehlt wohl noch ein Sieg aus den letzten 6 Spielen. Aber auch wenn dieser (vielleicht schon gegen Dortmund) erzielt wird und der VFL am Ende im gesicherten Mittelfeld der Liga eintrudelt, bleiben die von uns und auch anderen Medien geäußerte Kritik und Sorgen, was vor allem die sportliche Vereinsführung angeht, bestehen. Das gute ist, dass die Diskussion um diese Dinge ohne akute Existenzangst etwas entspannter geführt werden kann. Schlecht wäre hingegen, wenn sie mit dem Kommentar „Umbruch, alles auf Kurs, dauert noch“ weggewischt würde.