20240420 Tribüne Hoffenheim3Es entbehrt ja nicht einer gewissen Ironie, dass ausgerechnet der mit den Kapitalmarkterträgen von Dietmar Hopp in die Bundesliga gebrachte sympathische Traditionsverein aus dem Kraichgau sich als Torhymne einen klassenkämpferisch angehauchten Song einer explizit sozialistischen Band aus dem Osten Hollands gönnt. Die eingängige Melodie von „Was wollen wir trinken“ an einem Nachmittag vier Mal anhören zu müssen, lässt den Gladbacher Anhang leiden. Und: Je größer die emotionale Achterbahnfahrt während des Spiels, desto größer natürlich das Leiden.

Das Spiel erlebte eine in der ersten Halbzeit sehr tief stehende Gladbacher Mannschaft, die es dennoch in der ersten halben Stunde schaffte, mit Hack, Weigl und Plea drei richtig gute Torchancen zu erarbeiten und so jedenfalls das Chancenverhältnis einigermaßen ausgeglichen zu halten. Glück hatte man bei zwei großen Chancen der Hoffenheimer, einem von Nicolas gut gehaltenen Schlenzer von Kaderabek und einem Kopfball von Beier an den Pfosten. Hoffenheim fiel in dieser Phase aber gegen relativ eng stehende Gladbacher nicht sehr viel ein, sodass diese Taktik – auch wenn Seoane später in der Pressekonferenz erstaunlicherweise kundtat, das Tiefstehen sei nicht der Plan gewesen – zunächst einmal aufging. Dies galt aber nur bis zu einem der vielen individuellen Fehler dieses Nachmittags: Reitz verlor den Ball vor dem Strafraum, Hoffenheim spielte schnell, Weghorst war im Strafraum frei: 1:0.  Drei Minuten später gelang ein schöner Konter über Plea, der Hack mit einem genialen Pass steil schickte. Hack wiederum schirmte robust den Ball ab und traf zum Ausgleich.

Nach der Halbzeit wurde es deutlich lebendiger, vor allem Hoffenheim wollte mehr und bekam das auch, großzügig unterstützt von der Gladbacher Defensive: Vor dem 1:2 war es Wöber, der völlig unmotiviert aus der Kette rückte und versuchte, einen nicht erreichbaren Ball abzulaufen und damit Prömel den Platz zum Schuss verschaffte. Zwar gab es unmittelbar danach wieder Ausgleichschancen durch Plea, Elvedi und Lainer, die aber nicht genutzt wurden. Dann jedoch brachte Elvedi mit einem etwas kurz gespielten Querpass den an diesem Tag außergewöhnlich schwachen Weigl in Schwierigkeiten. Dessen zögerliche Ballannahme (statt direkt zum startenden Hack eine Reihe weiter vorn zu spielen) führte zum Ballverlust, den Kabak zum zweiten Weitschusstor des Tages nutzte. In dieser Phase machte sich auf der Tribüne das Gefühl breit, dass das Spiel gelaufen sei. Deutlich zu merken war das unter anderem auch an der Lautstärke der Gladbacher Kurve, die anders als die Spieler auf dem Platz bis dahin jederzeit die Stimmung im Stadion diktieren konnte – gestern wohltuenderweise ohne Aussagen über die Charaktereigenschaften von Hopps Mutter.  Man hatte die Rechnung aber ohne Robin Hack gemacht, der in der 78. Minute nach Flanke von Scally zunächst per Kopf den Anschluss markierte und dann in der 90. Minute das falsche Stellungsspiel des bis dahin souverän wirkenden Baumann bestrafte und mit einem Schuss in die Torwartecke sein drittes Tor an diesem Tag und zugleich den erneuten Gladbacher Ausgleich besorgte.

Was dann passierte, war schwer zu ertragen. Statt mit dem 3:3 zufrieden zu sein und sich auf die Defensive zu konzentrieren, wollte die Mannschaft – wie Weigl später im Interview bestätigte – naiverweise mehr. Stattdessen durfte Hoffenheim gegen eine hoch stehende Gladbacher Viererkette und eine nicht mehr existierende Defensivarbeit der Mittelfeldspieler mit einem langem Abschlag und ein bisschen Übersicht von Bebou den völlig frei stehenden Stach anspielen, der sich mit dem 4:3 bedankte.

seitenwahl 202308111936 IMG 4537Bitter war das vermutlich am meisten für Robin Hack, der sowas wie das Spiel seines Lebens machte, drei Tore schoss, der immer mehr beweist, wie falsch die Kritiker seiner Verpflichtung lagen und der am Ende im Interview nicht über seine drei Tore reden konnte, sondern erklären musste, warum man mit leeren Händen nach Hause fährt.

Analysiert man die Gegentore dieses Spieltages, wird sehr auffällig, dass alle diese Gegentore ihren Ursprung in der Zone vor der eigentlichen Abwehr hatten. Die Ballverluste von Reitz und Weigl vor dem ersten und dritten Tor betreffen diese Zone genauso wie der untaugliche Versuch von Wöber, beim zweiten Gegentreffer die unendlichen Weiten leeren Raums vor ihm abzudecken. Beim vierten Gegentreffer war es eine aufgerückte Abwehrkette, die keine Ordnung mehr hinbekam, die aber auch keinerlei Unterstützung aus dem Mittelfeld – etwa durch das Besetzen der völlig entblößten linken Strafraumhälfte – mehr bekam. Leitet man aus dieser Situation Handlungsbedarf ab, so dürfte der erste Wunsch des Trainers für die kommende Saison ähnlich lauten wie der von Thomas Tuchel vor dieser Saison bei Bayern München: Die Verpflichtung eines strategisch begabten, rein defensiv denkenden Sechsers mit Anführerqualitäten muss in der Prioritätenliste sehr weit oben stehen.

Für den Rest der Saison bleibt die Lage angespannt. Daheim gegen Union Berlin sowie in Bremen kommen in den nächsten beiden Spielen Gegner auf die Mannschaft zu, die sich in einer identischen Situation befinden. Wird in diesen Spielen gepunktet, nimmt die Saison kein zufriedenstellendes, aber ein versöhnliches Ende. Anderenfalls droht eine unangenehme Zitterpartie in Anwesenheit des Abstiegsgespenstes, das eine rote Fortuna-Fahne schwenkt.