seitenwahl 202308111759 IMG 4217There is fashion, there is fad.
Some is good, some is bad.

And the joke rather sad,
That it's all just a little bit of history repeating.

Wir erinnern uns: Nach einer Spielzeit im tristen Bundesliga-Mittelmaß und allzu dürftiger Leistungen war die Stimmungslage der Borussen-Fans auf einem Tiefpunkt angelangt. Dem vor der Saison neu verpflichteten Trainer war es nicht gelungen, den Negativtrend zu stoppen. Teile des Kaders äußerten Unzufriedenheit mit seiner Arbeitsweise. Infolgedessen wurde er entlassen und durch einen neuen Übungsleiter ersetzt, der sogleich wieder neue Euphorie im Umfeld auslöste. Von ihm wurde sich frischer Offensivfußball sowie eine Förderung junger Fohlenspieler versprochen, wie er es auf früheren Stationen erfolgreich umgesetzt hatte. In den Testspielen der Vorbereitung funktionierte dies direkt hervorragend und Borussia blieb ohne Niederlage. Im ersten Pflichtspiel der Saison setzte sich die neue Spielfreude durch einen Kantersieg bei einem Oberligisten fort, sodass die Fans erwartungsfroh auf den bevorstehenden Ligaauftakt blickten.

So in etwa gestaltete sich die Ausgangslage vor einem Jahr als Daniel Farke anschließend mit acht Punkten aus den ersten vier Partien sehr gut startete, später aber wie ein Bettvorleger landete und die Fans ernüchtert zurückließ. Sein Nachfolger Gerardo Seoane nimmt jetzt ein Jahr später unter ähnlichen Vorzeichen einen neuen Anlauf. Trotz der oben beschriebenen Parallelen gibt es bei optimistischer Sicht einige Anzeichen dafür, dass er es besser machen könnte. Denn die Situation ähnelt nur auf dem ersten Blick der im vorigen Jahr.

Damals war der bestehende Kader weitgehend zusammengehalten worden, der aus einer Vielzahl satter Profis bestand, die sich nur bedingt mit dem Verein identifizierten. Durch den Abgang gleich vier der besten Fußballer ging in diesem Sommer zwar einiges an individueller Qualität verloren und es ist kaum zu erwarten, dass die bis dato in der Bundesliga weitgehend unbekannten und unerfahrenen Neuzugänge dies vollständig werden kompensieren können. Es besteht aber Hoffnung, endlich wieder eine Mannschaft erleben zu dürfen, die tatsächlich gern für Borussia Mönchengladbach aufläuft und mit diesem Verein eine erfolgreichere Zukunft erleben möchte. Viel zu lange war zuletzt die Summe der Teile von Borussias Kader mehr wert als die Mannschaft im Gesamten. Am erfolgreichsten war der Verein von 2011 bis 2015 als dies unter einem anderen Schweizer Trainer genau andersherum war. 

Anders als Daniel Farke und ähnlich wie einst Lucien Favre hat Gerardo Seoane vor seinem Engagement in Mönchengladbach bereits auf Erstliganiveau erfolgreich gearbeitet. Ob in der Schweiz beim FC Luzern und Young Boys Bern oder in seiner ersten Saison bei Bayer Leverkusen, die für den Werksklub die erfolgreichste seit 2013 war und sie in die Champions League führte. 80 Tore bedeuteten für Bayer 2021/2022 einen neuen Vereinsrekord, den Seoane insbesondere seinem tschechischen Mittelstürmer mit 24 Treffern in 27 Bundesligaspielen verdankte. Neuzugang Thomas Cvancara sollte zwar nicht an diesen Werten eines Patrik Schick gemessen werden. Dass er weiß, wo das Tor steht, hat er aber in der Vorbereitung eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Zudem klappte dort das Zusammenspiel mit seinen neuen Sturmkollegen bereits erstaunlich gut. Mit Franck Honorat und Nathan Ngoumou verfügt Borussia über eine der schnellsten Flügelzangen der Liga, die ggf. auch gemeinsam auf der rechten Seite harmonieren können. Im zentralen Mittelfeld wurden Julian Weigl und Florian Neuhaus für ihre Vereinstreue mit der Beförderung zum Vize-Kapitän belohnt. Als ehemalige Nationalspieler sind beide bereit, Führungsverantwortung zu übernehmen, was gerade auf ihrer zentralen Position von großer Bedeutung ist. Verantwortung übernimmt erst recht Jonas Omlin, der in seinem ersten halben Jahr Yann Sommer sportlich gleichwertig ersetzt und sich als intelligenter Wortführer die Rolle des Kapitäns verdient hat.

seitenwahl 202308051533 IMG 2477Die Abwehr dagegen war in den letzten drei Jahren das große Sorgenkind der Borussia und kassierte jeweils mindestens 55 Liga-Gegentore. Sie wird auch in neuer Zusammensetzung noch Zeit benötigen. Seoane sollte aber schnellstmöglich eine Auf- und Einstellung zu finden, die endlich wieder Stabilität und Kompaktheit verspricht. Taktisch bieten sich ihm hierzu verschiedene Optionen, seine Mannschaft entweder in einer Dreier- oder Viererkette aufzustellen. Mit Maximilian Wöber wurde ein erfahrener Innenverteidiger für den weiterhin abwanderungswilligen Elvedi verpflichtet. Mit Fabio Chiarodia ein vielversprechendes Talent. Auf den Außenbahnen ist zudem darauf zu hoffen, dass sich Joe Scally und Luca Netz unter Seoane besser weiterentwickeln als es zuletzt bei Farke der Fall war.

Neben ihnen und Ngoumou verfügt Borussia über eine Fülle weiterer entwicklungsfähiger Talente, wie u. a. Ullrich, Ranos, Borges-Sanches oder Olschowsky. Es ist dem neuen Trainer zuzutrauen, zumindest einige von ihnen in dieser Saison nachhaltig zu fördern. Damit würde nicht zuletzt der Wunsch des Sportdirektors und vieler Fans erfüllt, wieder zunehmend junge Fohlen in der ersten Mannschaft zu etablieren.

Sofern Nico Elvedi in diesem Sommer erwartungsgemäß doch noch verkauft werden sollte, könnten die Einnahmen in Höhe von 10 Mio. + x Euro in einen weiteren Ausbau der Kaderspitze und -breite gesteckt werden. Noch viel spannender würde das Ende dieser Transferperiode, wenn sich doch noch ein potenter Käufer für Manu Koné finden würde. Da Borussia hier inzwischen nicht mehr in der Not ist, für ihn kurzfristig entsprechendes Geld generieren zu müssen, befindet sich Roland Virkus in einer ausgezeichneten Verhandlungsposition. Ein Verkauf des international begehrten Franzosen sollte daher nicht unter 40 Millionen Euro über die Bühne gehen. Neben der Höhe der zu erzielenden Ablöse wäre inzwischen nämlich zu beachten, wie sich ein solcher Verlust eines weiteren Topspielers bis zum Ende der Transferperiode am 1. September überhaupt noch adäquat kompensieren ließe.

seitenwahl 202308111918 AJ7X7950Unabhängig von all diesen Überlegungen wird für Cvancara noch ein erstligatauglicher Ersatz gesucht, der im Notfall für einen Einsatz bereitsteht, sich aber auch ohne größeres Murren auf die Bank setzt, sollte der Tscheche spielen und überzeugen. Jordan Siebatcheu gilt hier als aussichtsreicher Kandidat, der sich mit seinen 27 Jahren auf höchster Ebene bislang nicht durchzusetzen verstand: ob von 2018 bis 2020 bei Stade Rennes in der Ligue 1 oder vergangene Saison bei Union Berlin. Dazwischen überzeugte er u. a. unter Trainer Gerardo Seoane bei Young Boys Bern und markierte in 64 Spielen der Schweizer Super League 34 Tore. Sofern sein alter und Borussias neuer Trainer ihm die Rolle des Cvancara-Backups zutraut, dürfte eine Leihe mit Kaufoption das bevorzugte Mittel der Wahl sein, auf das sich Union nach den prominenten Zukäufen in der Offensive ggf. einlassen könnte. 

Des Weiteren sollte Borussia die Augen nach einer weiteren Verstärkung für die eigene Defensive offenhalten: ob im Mittelfeld oder auf der rechten Außenverteidigerposition, wo die Alternativen durch Stevie Lainers tragische Erkrankung dünn gesät sind. So erstrebenswert eine Förderung der eigenen Jugend ist. Die Mannschaft sollte grundsätzlich auch ohne ihre Talente stark genug aufgestellt sein, um in der Bundesliga zu bestehen. Ist ein Jungspieler stark genug, dann wird er seine Chancen erhalten und sich i. d. R. früher oder später durchsetzen.

Nicht nur als Fan muss man Borussia für eines der spannendsten Projekte dieser Bundesliga halten. Nach dem fehlgelaufenen Versuch, den Verein durch Übernahme von etwas Bullen-DNA in der Spitzengruppe der Bundesliga etablieren zu wollen, hat Borussia Mönchengladbach in diesem Sommer aus einer schwierigen Situation einen respektablen Umbruch bewältigt, der Hoffnung macht auf eine bessere Saison und vor allem auf eine Perspektive für eine nachhaltig bessere Zukunft des Vereins. Etwas, was viele vor drei Monaten noch für nahezu undenkbar gehalten hätten.

Stimmungswechsel. Betrachten wir die aktuelle Situation einmal aus der Sicht eines notorischen Schwarzmalers – so wesensfremd dies uns Seitenwählern auch sein mag: Ob die Perspektive tatsächlich so gut ist, wie oben dargestellt, das kann und wird erst der Praxistest im Pflichtspielalltag zeigen. Vorbereitungsspiele haben ebenso wie Pokalsiege über fünftklassige Mannschaften keinerlei Aussagekraft für den späteren Saisonverlauf. Es gibt keine Garantie, dass es Seoane unbedingt so viel besser machen wird als sein Vorgänger, der noch vor einem Jahr genauso euphorisch bejubelt wurde. Die Schweizer Liga ist nur bedingt ein Gradmesser für einen Erfolg in der Bundesliga. In Leverkusen folgte für Seoane bereits direkt zu Beginn des zweiten Jahres der brutale Absturz: Nach 12 Pflichtspielen, von denen 8 verloren gingen, wurde er entlassen.

seitenwahl 202308051548 IMG 2665Sollte es dem Schweizer ebenso wie seinem Vorgänger nicht gelingen, seine Spieler und insbesondere die zahlreichen Talente besser zu machen, könnte es für Borussia ganz schnell sehr düster aussehen. Nathan Ngoumou z. B. war auch in der vergangenen Saison schon sauschnell, scheiterte dort aber an der mangelnden Durchsetzungsfähigkeit im harten Bundesligaalltag. Der in der Vorbereitung viel gelobte Robin Hack hat bereits auf zwei Stationen Erstligaerfahrung gesammelt. Sowohl in Nürnberg als auch in Bielefeld erwies sich diese Spielklasse aber als zu ambitioniert für ihn. Die beiden Außenverteidiger gehen jeweils in ihre dritte Profisaison und werden gegenüber den Leistungen des Vorjahres erheblich zulegen müssen. Dies gilt ebenso für das Vize-Kapitänsduo im zentralen Mittelfeld, auf dem große Erwartungen lasten. Julian Weigl spielte bei aller Vereinsverbundenheit eine durchwachsene Saison und war in Lissabon nicht mehr wirklich gefragt. Florian Neuhaus läuft bereits seit zwei Jahren seiner Bestform hinterher. In der vergangenen Saison wurden nicht wenige Spiele primär durch die individuelle Qualität von Hofmann, Stindl und Thuram gewonnen. Deren Verlust muss zwingend durch die Neuzugänge, die Talententwicklung und die mannschaftliche Geschlossenheit aufgefangen werden.

Dies ist der Mannschaft und dem Trainer zuzutrauen. Es ist aber kein Selbstläufer. Kritische Expertenstimmen, die ggf. sogar Abstiegsgefahr vorhersehen, sollten daher nicht verflucht, sondern als mögliches Worst-Case-Szenario ernstgenommen werden. Sie können sogar hilfreich sein, um die Fans und das Umfeld auf schlechtere Zeiten vorzubereiten. Jeder Borussen-Fan sollte sich dessen bewusst sein, dass ein Umbruch Zeit benötigt, wie auch Seoane und Virkus nicht müde werden zu betonen. Mit dieser völlig neuformierten und verjüngten Mannschaft wird Borussia ganz bestimmt schon in dieser Saison kritische Zeiten durchleben müssen.

Es ist wichtig, dass sich jeder im Verein Borussia VfL 1900 aus Mönchengladbach dieser besonderen Situation bewusst ist und alles dafür tut, damit der Verein diese schwierige Spielzeit ohne längere Schwächephasen meistern wird. Die Weichen, die in diesem Sommer gestellt wurden und werden, entscheiden zu wesentlichen Teilen darüber, wie es mit dem Verein in den nächsten Jahren weitergehen wird. Bei positivem Verlauf ist eine dauerhafte Etablierung in Liga 1 und bei guten Saisonverläufen perspektivisch ggf. sogar eine Rückkehr auf die europäische Fußballbühne realistisch. Wenn sich der Verein dagegen wie in der letzten Saison präsentiert und in alte Muster verfällt, bei denen Egoismen über Teamgeist gestellt werden, so ist ein Totalabsturz nicht auszuschließen. Aufgrund der geringeren individuellen Qualität im Kader würde dieser dann vermutlich nicht mehr so glimpflich ausgehen wie in den letzten beiden Jahren.

Die Wahrheit wird in der kommenden Saison vermutlich irgendwo in der Mitte der oben beschriebenen Szenarien liegen. Anders als im letzten Jahr, handelt es sich bei dieser Spielzeit tatsächlich um eine Übergangssaison, in der die Tabellenplatzierung nicht unbedingt den höchsten Stellenwert einnimmt – solange sie sich irgendwo zwischen Platz 8 und 14 einpendelt, was mit hoher Wahrscheinlichkeit angenommen werden darf. In (dauerhafte) Abstiegsgefahr sollte die Mannschaft besser nicht geraten. Ein sicherer Mittelfeldplatz wäre ihr aber zu verzeihen, sofern sie auf dem Platz erkennen lässt, alles für den Teamerfolg zu geben und sich eine Perspektive erkennen lässt – insbesondere durch die positive Entwicklung einiger (junger) Spieler.

seitenwahl 202308111821 AJ7X7745Warum sollte es einem erfahrenen und erfolgreichen Trainer wie Seoane nicht gelingen, einem Ngoumou das nötige Rüstzeug für die erste Liga beizubringen, damit er mit seiner Schnelligkeit zu einer echten Waffe wird? Warum sollten nicht Weigl und Neuhaus an der von ihnen selbst erbetenen Verantwortung wachsen und so an ihre alten Leistungen anknüpfen können, die sie einst in den Dunstkreis der deutschen Nationalmannschaft brachten? Warum sollte sich – mit Blick auf die starken Leistungen der U23 im Vorjahr – nicht endlich mal wieder ein echtes Eigengewächs aus der Jugend in der ersten Mannschaft etablieren können?

Insgesamt ist die Seitenwahl-Redaktion vorsichtig optimistisch, dass die bevorstehende Saison erfreulicher verlaufen wird als die vorige und sich die Geschichte aus dem Vorjahr nicht wiederholen wird. Wie dies bei den einzelnen Redakteuren im Detail aussieht, das verraten wir Euch morgen, wenn diese ihre jeweiligen Einschätzungen veröffentlichen.