Es war Balsam für die Borussenseele. Der Brausesatan ist besiegt, das Mütchen gekühlt, das infolge diverser Vorgänge in den vergangenen Wochen und Monaten so heiß geworden war. Das Gute hat obsiegt, wenigstens ein Mal. Erstmals seit dem Pokalerfolg gegen Bayern München vor knapp elf Monaten war im Borussia-Park wieder richtige Euphorie zu spüren. Doch natürlich war diese Partie für die meisten, die es mit Borussia halten, viel mehr als nur ein Fußballspiel. Aus Fansicht war es das Spiel Gut gegen Böse, Verein gegen Konstrukt, Heiß gegen Kalt. Und es war Wir gegen Rose, Wir gegen Eberl. Das mag man alles kindisch, gestrig, albern finden. Dennoch: Genau das lag im Borussia-Park in der Luft (und hing später hinter dem Tor). Auf das Spiel zurückzuschauen und all das auszublenden, wäre unehrlich. Und zu glauben, die Stimmung im Stadion wäre ohne dieses Aufgeladensein so gewesen, wie sie war, wäre naiv. Sollte die Unterstützung auf den Rängen einen Einfluss auf das Geschehen auf dem Rasen haben, sollten selbst die von jedweder Fanfolklore ansonsten unbeeindruckten bis angewiderten Fußball-Geschäftsleute anerkennen, dass das eben nicht ein ganz normales Spiel zweier ganz normaler Fußballvereine war.

„Leipzig ist ein Fußballverein wie jeder andere“. Mit diesen Worten brachte Christoph Kramer die in den 90 Minuten zuvor entstandene Flamme der Zuneigung wieder zum Erlöschen. Ein ehrlicher Satz, der zeigt, was wir alle wissen, aber nicht gerne hören: Das Personal auf dem Platz und an dessen Rand lebt in einer Welt, deren einzige Schnittmenge mit der Welt der Fans die 90 Minuten sind, in denen der Ball rollt. Für die Spieler, auch vermeintliche Borussen wie Stindl oder Kramer, sind die Fußballvereine Arbeitgeber, im Fall von RB Leipzig attraktive weil gut bezahlende Arbeitgeber. Sämtliche Akteure im Business Fußball sind „Supertypen“, weil die Wahrscheinlichkeit, dass man im Lauf einer langen Karriere in diesem Geschäft noch einmal mit diesen Supertypen zu tun hat, recht groß ist. Wie groß die Distanz zwischen den Fans und ihren Emotionen auf der einen und den Geschäftsleuten und ihren Interessen auf der anderen Seite ist, selten wurde es klarer, als in der Aussage ausgerechnet dieses Spielers nach ausgerechnet diesem Spiel. "Als Romantiker" fände er RBL auch nicht gut, immerhin. Aber Romantiker ist Christoph Kramer nicht, sondern Fußballer und Angestellter eines Unternehmens im Fußballbusiness. Diesem Angestellten Kramer ist angesichts dieses Satzes kein Vorwurf zu machen. Außer, dass es Situationen gibt, in denen man vielleicht einfach mal den Mund hält. Aber das ist bekanntlich nicht die Kernkompetenz des Angestellten Kramer.

Wie emotional viele Fans auf RB Leipzig, die Personalie Rose und vor allem die Personalie Eberl reagieren, war spätestens nach dem offenen Brief des Fanprojektes in der Woche vor dem Spiel klar. Interessant war, dass aus dem Verein selbst dazu nichts als dröhnendes Schweigen zu hören war. Was in Teilen der Anhängerschaft als stillschweigende Zustimmung gedeutet wurde, war möglicherweise auch nur die feste Absicht, sich vor dem sportlich wichtigen Samstagabend nicht auf Nebenkriegsschauplätzen abarbeiten zu wollen. Ob und wie genau man im Verein vorab über den Brief Bescheid wusste und wie man ihn dort gewertet hat, wir wissen es nicht. Wie die Stimmung im Umfeld ist, wussten allerdings dank dieses Briefes alle. 

So kann auch keiner überrascht gewesen sein, dass die Fans in der Kurve dem Gegner und der Öffentlichkeit diesmal noch einiges mehr würden mitzuteilen haben, als nur „Wir Tradition – ihr Konstrukt“. Die Emotion, aus der diese Transparente entstanden sind, mögen sie auch von begrenzter Phantasie zeugen, ist dieselbe, die das Stadion 90 Minuten lang zum Kochen brachte. Von daher möge man sich doch bitte von Vereinsseite dabei zurückhalten, die eigenen Fans zu beschimpfen. Dass in der Kurve nicht ausschließlich Feingeister und Edelfedern stehen und dass „Selbstbeherrschung“ in diesem Umfeld eine wenig verbreitete Eigenschaft ist, ist weder verwunderlich noch wäre es wünschenswert. Wer eine Stimmung möchte, die keine offenen Briefe und keine wütenden Transparente hervorbringt, der gehe doch nach… Leipzig zum Beispiel. 

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Marco Rose brachte es auf den Punkt, auf Transparente und die „Rose-Raus“-Rufe angesprochen: „Ich weiß nicht, ob man dem Ganzen eine Plattform geben sollte“. So stellt er sich Fußball vor, die lässige Ich-AG aus dem Leipziger Südosten. Weg mit den Emotionen, mit den lästigen Fans. Lieber gesittete Kunden auf den Sitzplätzen und leere Kurven. Die Geisterspiele im Borussia-Park zu Hochzeiten von Corona haben ihm schließlich enorm in die Karten gespielt.

Die richtigen Worte und die richtige Einordnung fand Daniel Farke, der schlicht zu Protokoll gab, dass Emotionen, auch überschäumende und manchmal den Boden des Rationalen verlassende, bei einem Traditionsverein wie Borussia nun einmal dazugehören. Damit machte er gut, was Roland Virkus, einmal mehr rhetorisch unterkomplex, vorher schlecht gemacht hatte. „Das ist nicht Gladbach-Style“ ist eine groteske Fehleinschätzung dessen, was „Gladbach-Style“ ist, ob man diesen Style nun mag oder nicht. „Über eine Krankheit spekuliert man nicht“, mag in sich eine korrekte Aussage sein, nur war das während des Spiels überhaupt nicht geschehen. Und mit seinem Lob an Schiedsrichter Patrick Ittrich lag Virkus so falsch, wie man nur falsch liegen kann.

Denn dieser Patrick Ittrich hat sehenden Auges die DFB-Regeln missachtet und das nach dem Spiel auch noch stolz bestätigt. „Kritik gegen Institutionen und Personen ist selbstverständlich zulässig. Selbst wenn sie beleidigend oder grob unsportlich sein sollte, kann das Spiel auch künftig weiterlaufen und gegebenenfalls wie bisher nur ein sportgerichtliches Verfahren (ohne die Anwendung des Drei-Stufen-Plans) nach dem Spiel eingeleitet werden“ heißt es eindeutig vom Deutschen Fußball Bund. Und dennoch drohte Ittrich mit Spielabbruch, sollte ein Plakat, an dem ernsthaft Anstoß zu nehmen eine gewisse Berufsbeleidigtkeit voraussetzt, nicht entfernt werden  und ließ das den Stadionsprecher verkünden. Nach dem Spiel auf diesen Regelverstoß angesprochen, erzählte der Schiedsrichter etwas von „kurzer Leine“ und seiner persönlichen Ansicht, was man unterbinden müsse. Dies Ansicht steht im Widerspruch zur oben zitierten Maßgabe des DFB. Konsequent weitergedacht, könnte ein selbstbewusster Ordnungsfetischist wie Ittrich auch jede andere Maßgabe des DFB auf dem Feld ignorieren, weil er sie für zu lasch hält. Will sagen: Der Job des Schiedsrichters ist, darauf zu achten, dass Regeln eingehalten werden und gegebenenfalls Verstöße zu sanktionieren. Wie kann es sein, dass ein solcher Schiedsrichter mit stolzgeschwellter Brust von sich gibt, die Regeln mache er selbst? Und da haben wir von wirklich anstößigen Randerscheinungen bei Fußballspielen, die von Schiedsrichtern immer wieder toleriert werden, noch gar nicht angefangen. Wo sind wir gelandet, wenn man auf Transparenten Rassismus hochleben lassen, ein Konstrukt wie RBL aber nicht kritisieren darf? 

So ist der Adrenalinkick vom Samstagabend, ist die Euphorie, leider schon wieder etwas abgeklungen. Der Balsam für die Borussenseele, er riecht etwas ranzig. Ein tolles Fußballspiel war es, die Hoffnung auf weitere scheint berechtigt. 

Aber die Distanz zwischen uns – und als Fans schreiben wir hier – und dem überwiegenden Teil der im Fußballbusiness beheimateten und beim Verein Borussia Mönchengladbach angestellten Menschen ist groß. Das zeigt das Handeln und Reden dieser Menschen nach dem Schlusspfiff. Sind wir der Verein oder sind sie es? Und wie lassen sich diese Welten übereinbringen? Ganz nüchtern gesprochen: Ein Verein, dessen Solidarität mit dem Konstrukt RB Leipzig größer ist, als mit den eigenen Fans, sollte sein Geschäftsmodell überdenken.